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2013 24 Aug

Scott auf Sylt

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | 6 Comments

Einer der grossartigsten Songschreiber und Sänger auf dem Planeten kam vor Tagen auf der Nordseeinsel Sylt an, die allenthalben berühmt ist als Reiseziel flüchtiger, sehr flüchtiger oder auch vom ewigen Sternenstaub geküsster Berühmtheiten. Keine Frage, als diese Information zu mir durchdrang, mit einem Interviewangebot jenseits der Tagesaktualität, liess ich mich von den fernen Bergen locken, und trat die lange Reise in den hohen Norden an. Scott Walker wird hier natürlich nicht so leicht erkannt wie der 86-jährige Rudi Gutendorf, Erfinder des Rudi-Riegels in den Sechzigern, oder andere deutsche Promis aus der Show-, Schauspieler- und Fussballwelt. Und wer weiss schon, dass auch bei wildem Londoner Regen Scotts besonderes äusseres Kennzeichen, neben der ewig schon hageren Gestalt, seine schwarze Sonnenbrille ist, die es an Insider-Kultcharakter fast schon aufnehmen kann mit der Ray-Charles-Sonnenbrille. Ganz in schwarz gekleidet, trafen wir uns zu einem ersten Gespräch am späten Nachmittag am Samoa-Restaurant hinter Rantum. Windschutz (fürs Mikrofon) nützt hier bei starken ablandigen Winden herzlich wenig, aber es ist ja auch ein Exklusivauftrag für eine englische Zeitschrift, die in Zukunft zwölf britischen Legenden, die allesamt die 60 schon überschritten haben, essentielle Aussagen über „kreative Strategien des Songschreibens“ und „Zukunftsorganisation“ entlocken will. Interessanter Auftrag. Ich habe viele Interviews mit Scott W. gelesen, ich liebe den Grossteil seiner Soloalben (bei soviel Schwärze mag „lieben“ ein kühnes Wort sein, doch ich bleibe dabei), speziell „The Drift“ und „Bish Bosch“ zählen für mich zu den einsamen Sternstunden der jüngeren Musikhistorie. Am Strand, und Tags drauf am Roten Kliff, sprachen wir über Paul Celan, Elvis Presley, schwarzen Humor, Zeitreisen, Tony Blair, Eremitenleben, Ego-Illusionen, Schiffbrüchige (es gibt hier einen Friedhof für Schiffbrüchige!), Lieblingsromane der Jugendzeit, Peter Handke (er kam darauf), The Beatles (ich kam darauf), wieso gewisse Musiker schon mit 30 ihr Spätwerk ins Auge fassen, wieso man die letzten Alben von Johnny Cash auch grandios finden kann, wenn man kein Anhänger des Alten Testaments ist, wie manche Filmsequenzen sich in Songpassagen spiegeln etc. – die Zeit verging im dunklen Fluge. Ich sah Scott allerdings öfter schmunzeln und lächeln als ich erwartet hatte. Zum Beispiel beim Eiergrog, den er noch nie getrunken hatte. Am letzten Abend gingen wir in sein Ferienhaus, gar nicht so weit weg von der „Kupferkanne“, einem pitoresk gelegenen Gasthaus, das kulinarisch gern überschätzt wird (der Kaffee aus der eigenen Rösterei ist nicht so beeindruckend), er hatte den Raum mit Meerblick in ein Musikzimmer verwandelt , ich baute das Studiomikrofon auf, und er spielte dann, guitar and vocals only („only“ ist gut, liebe Leserinnen und Leser:)) – und dann ereignet sich  das umwerfendste Erlebnis meiner Musikjournalistenlaufbahn, eine unfassbare, verfremdete, neuartige, Gänsehaut ohne Unterlass produzierende, Version, was sag ich, Neuerfindung, seines Hits „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“. Für die letzte Ausgabe meiner Nachtsendung „Klanghorizonte“, die ja über kurz oder lang mal im Deutschlandfunk stattfinden wird. Etwas anders als in den Märchen geht es am Ende wahrer Geschichten zu, das dürfte eine Binsenweisheit sein.

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6 Comments

  1. Henning:

    delirierender Text, Michael ((-:, fast Seemannsgarn ((-: , schöhn ..

  2. Bob:

    Wow – what a wonderful post, Michael. I think that an evening with Scott and Eiergrog sounds delightful and Sylt looks beautiful too! I’ll need to read it again to check some words, but thank you!

  3. Michael Engelbrecht:

    Fotos und Interview wurden exklusiv verkauft, deshalb darf ich hier keine Portraitfotos platzieren.

  4. Gregor:

    Das sind so die Dinge, um die ich dich richtig beneide, dir natürlich aber auch herzlich gönne. Ähnlich erging es mir, als du mir von dem großen Gespräch mit Paul Bley erzähltest. Ich glaube das war für eine NDR-Sendung, für das Jazz-Laboratorium.
    Hatte dich Paul Bley nicht auch als alter Mikro-Sammler um dein Mikrophon gebeten? Kann sein, dass ich das nur geträumt habe. Zurück zu Herrn Walker. Wann wird der Artikel erscheinen???

  5. R3c.Kid:

    Gregor hat recht. Scott Walker interviewen: ich wäre SEHR nervös gewesen, glaube ich.
    Bis Fotos und Interview veröffentlicht werden vergeht sicherlich noch etwas Zeit…, ein kleiner Hinweis im Blog oder per Mail kurz vor Erscheinen damit ich mir das Heft dann kaufen kann wäre toll ! :-D

  6. Michael Engelbrecht:

    Wird gemacht! Und, Gregor, das mit Paul Bley hast du nicht geträumt. Er sammelt Mikrofone, und war ganz begeistert von meinem Sennheiser MK sowieso, das auch z. B. Garbarek im Heimstudio hatte. Ich liess es mir vom Meister der Tasten abschwatzen, und dann war es auf einmal nicht mehr zu haben. Ein Kultobjekt, ein Museumsstück. Wenn ich bald meine Plattensammlung wieder beieinander habe, hoffe ich Paul Bleys ALONE AGAIN findet sich darin wieder, in gutem Zustand. So gut wie OPEN, TO LOVE. Aber bessere Aufnahmequalität.


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