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2016 15 Mai

Das Lied vom Tramper aus der DDR

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Ich bin nie in einem Trabi gefahren. Aber ich kenne ein paar Leute, die ihre Kindheit oder Jugend lang in diesen Autos aus Pappe gereist sind. Ich lernte S. in einem Schriftstellerseminar kennen. Zu den Treffen brachten wir unsere aktuellen Texte mit, kopierten sie mit Hilfe eines elend langsamen Kopiergerätes, lasen sie vor und diskutierten darüber. S sprach im Seminar nicht viel, deshalb konnte ich sie nicht so einschätzen wie sie mich. Einmal kamen wir näher ins Gespräch und sie lud mich zu sich zum Abendessen ein. Es war Januar oder Dezember und ein Wintereinbruch war vorhergesagt. Ich fuhr trotzdem mit dem Rad zu ihr und es begann tatsächlich wie verrückt zu schneien. Ihre Wohnung lag ganz oben, sie war unglaublich gemütlich beleuchtet und wunderbar verwinkelt, (in einem Autorenseminar würde man jetzt bemängeln, das sind zu viele Adjektive, vor allem sind es wertende Adjektive, die no-go sind, und keine beschreibenden Adjektive, die nach strenger Prüfung im Einzelfall erlaubt sind, und ich würde dann sagen, ich weiß das, aber ich will sie jetzt einfach trotzdem). S. zeigte mir alle Räume, und ich hatte so ein Gefühl von Nachhausekommen und dem Beginn von etwas. Sie hatte ein unkompliziertes Essen gekocht, das nebensächlich ist. Wir redeten über das Seminar, die düsteren Gedichtbände des Seminarleiters und wie sie in Bezug zu seinem Leben stehen könnten. S. schrieb ausschließlich Liebesgedichte, die zwischen Euphorie und Melancholie schwebten. Alle waren hingerissen von diesen Gedichten, die so wirkten, als ob sie einen autobiographischen Kern hatten, aber nicht ganz autobiographisch waren. S stammte aus Thüringen, die Wende hatte ihrem Leben eine völlig neue Richtung gegeben, ihre Ausbildung war zu nichts mehr zu gebrauchen. Sie fand die Stimmung im Westen sehr anstrengend, ständig hatte man sich darzustellen und zu definieren, vor allem beruflich. In der DDR hatte das keine Rolle gespielt, die sozialen Beziehungen waren völlig frei davon, man traf sich und erlebte etwas gemeinsam. Wir trafen uns öfter und begannen, unsere Texte außerhalb des Seminars zu besprechen. S lud mich zu ihrer Geburtstagsfeier ein, bei der auch viele ihrer Freunde aus der DDR waren. Ihr Bruder hatte seine Gitarre mitgebracht und sie sangen Lieder, die ich nicht kannte. Der Abschlusssong des Abends war eine Komposition ihres Bruders, das Lied vom Tramper aus der DDR, so geheim, dass es nicht verboten war. Und ich schob mein Rad den ganzen Weg zurück durch den leuchtenden Schnee.


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