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Archives: Roberto Bonati

 

The Gesture of Sound, the Gesture of Color: 

“Movements, Shifts, Displacements, Stillness” 

 

 

 

 

 

Einige Gedanken zum Erschaffen von Musik zwischen Notation und Gebärden nach der Erfahrung meiner Zusammenarbeit mit dem Chironomic Orchestra in Parma unter Leitung von Roberto Bonati beim Festival Parma Frontière Jazz 2022 am 16. Oktober

 

Zwei Seiten: Improvisation und Orchestration 

 

Improvisation ist die kreative Schöpfung im Hier und Jetzt, es ist Echtzeitkreation aus dem inneren Fundus von MusikerInnen. Orchestration ist die Abstimmung der Teile einer Kreation zu einem sich stimmig entwickelndem Ganzen. Beides sind zwei Seiten derselben Medaille musikalischer Schöpfungsprozesse. 

Im Zusammenhang mit Jazz wird üblicherweise das Improvisatorische – inzwischen immer nachdrücklicher – zum höchsten Wert ausgerufen und das unmerkliche Ineinander-Übergehen von Vorstrukturiertem/Notiertem und Extemporiertem als Idealfall gesehen. Man schaue neuere Rezensionen mal daraufhin und wird reichlich fündig werden, wobei nicht immer klar wird, wie sich beides in den jeweils besprochenen Fällen vollzieht (mitunter auch schlicht leere Behauptungen, weil’s zum guten Ton gehört).

 

Heisse Nadel

 

Stücke werden im Jazz häufig in Grundzügen notiert (lead sheets). Die Ausfüllung geschieht dann improvisatorisch. So ist den Musikern mehr Freiheit erlaubt und es kann zu überraschenden, nicht vorhergesehenen Wendungen und Entfaltungen kommen. Dies erhöht die Spannung bei MusikerInnen wie beim Publikum. Dem mit heisser Nadel frei in der Momentanität Gestrickte wird im Allgemeinen ein höherer, intensiverer Erlebniswert zugeschrieben. Auch können im lebendigen Zusammenspiel in Echtzeit  Klänge entstehen, die man im nachdenkenden und notierenden Modus des Komponierens schlichtweg nicht erreichen kann. Extrem gesagt können sich beide zueinander verhalten wie heisse Lava beim Vulkanausbruch und deren erkaltete geronnene Form. 

Das Zusammengehen von Vorstrukturiertem, unmittelbar Erkennbarem und erweiterndem Fabulieren kennen wir in unserem Kulturkreis von Kirchenorganisten, die meistens sehr gute Improvisatoren sind. Sie leiten bekannte Lieder phantasiereich einstimmend ein und/oder lassen sie durch eine Koda phantasiereich zum Nachsinieren ausklingen. Durch ihre starke Form und Struktur eignen sich Kirchenlieder wunderbar dafür. Auf der zuhörenden Seite fügt sich Bekanntes mit Hinführendem und Ausschweifendem. Nicht umsonst gebrauchten Jazzmusiker starke Evergreens aus der Unterhaltungsmusik für ihre Exkursionen und Transformationen. Man höre sich an, was z.B. John Coltrane aus Songs von Richard Rogers oder gar von Franz Lehar macht.

 

Kontinuum

 

Damit wird auch erfahrbar, dass Musik aus einem Kontinuum entsteht und in einem Kontinuum aufgeht, in das wir wieder und wieder eintauchen können, das wir wieder und wieder aufleben lassen können. Das heisst aber auch, dass sich Klänge fortwährend mischen – real und vor allem in unserer Wahrnehmung, die das Gehörte abdämpfen, aufschäumen oder strecken kann. Das betrifft sowohl den realen auditiven Intake als das, was unser Gemüt damit macht. Das Notierte ist eine phantasiegeladene erinnerte Form davon und eine intentionsgeladene Einritzung, die man lesen, interpretieren können muss. Zuhörer haben ihre eigene Dramaturgie bezüglich des Gehörten und Komponisten bzw. Musiker können das dann in eigene organisierte Klänge umsetzen.

 

Orchestration

 

Zurück zum Ausgangspunkt, der Beziehung von Improvisation und Orchestration. In einem einige Jahre zurückliegenden Gespräch mit dem norwegischen Trompeter Arve Henriksen, äusserte dieser, dass für ihn beim Zusammenspiel Orchestration ebenso wichtig sei wie die immer wieder so hoch beschworene Improvisation. Nun beinhaltet jede Improvisation, und sei sie noch so offen und frei, immer auch unbewusst Orchestration, ein Abstimmen aufeinander bis hin zu weitgehender Negierung davon. Bei ‘Orchestration’ oder ‘Orchestrierung’ denkt man auch an eine höhere Instanz, die dem Ganzen ein bestimmendes Klangbild verleiht, das sich aus dem Miteinander bestimmter Klangelemente ergibt.  

Man achte im übrigen auf die Ausdrücke ‘stimmig’, ‘einstimmen’, ‘bestimmend’, ‘bestimmt’ und ‘abstimmen’. Dem Deutschen ist eine starke vokale Metaphorik eingeschrieben. Wenn wir dann zu ‘Stimmung’ kommen, haben wir einen Ausdruck, der sowohl die äussere Klangseite als die innere Klangseite kodiert. 

Arve Henriksen ist deutlich ein Musiker, der das Improvisierende mit dem Orchestrierendem intensivierend zusammenführt, sei es im Zusammenspiel mit anderen als auch im Solospiel. Der Gitarrist Ralph Towner ist auch ein gutes Beispiel dafür. Dasselbe kann in einem Kontrabass-Solo geschehen, wo sich tiefe Lagen mit hohen Stimmlagen, rauh gestrichenen, gerupften oder gekratzten Texturen wie feinsinnigem Arco und perkussiven Klängen mischen bzw. orchestral entfalten können.

 

Chironomie, Gregorianische Gesänge

 

Wie führt dies nun zum chironomischen Ansatz des Bassisten/Dirigenten Roberto Bonati? Auf der Suche nach Mischungen in dem Kontinuum, in dem Musik sich bewegt, war der US-amerikanische Trompeter Lawrence ‘Butch’ Morris (1947-2013) mit seinen Conductions, bei denen mit Handzeichen und Gesten im Zusammenspiel mit der Realisierung durch die Orchestermusiker in Echtzeit Musik geschaffen wurde, eine beeindruckende Inspirationsquelle. Ähnliches gilt für den Soundpainting-Ansatz von Walter Thompson (1952). Butch Morris als auch sein Schüler Dino J.A. Deane (1950-2021) arbeiteten beide auf dem Punkt Festival in Kristiansand.

Der Bassist und Dirigent Roberto Bonati aus Parma sah sich weiter in der Musikgeschichte um und entdeckte, dass solche Handzeichen auch im Mittelalter eine wichtige Rolle spielten, etwa bei der Steuerung von Chören bei Gregorianischen Gesängen. Unsere heutige Notenschrift existierte zu der Zeit ja auch noch nicht. ‘Chironomie’/‘chironomisch kommt vom Altgriechischen ‘χειρονομειν’ und bedeutet ‘die Hände/Arme in Kadenz bewegen’. 

 

Handzeichen/Gebärden

 

Zeichen-/Gebärdensprache ist ein uraltes effektives Mittel der Koordinierung von kooperativem Handeln etwa beim Jagen, Kletter, beim Bauen oder bei der Umzingelung von Feinden. Sie ist nahe an der Dynamik des Geschehens und hat eine hohe Impulsstärke, richtungs- und bewegungsweisende Kraft wie textur- und temperaturbeeinflussende Wirkung. Die Orchestermusiker haben bei dieser Herangehensweise die Freiheit, die jeweils angedeutete Klangqualität a l’improviso zu finden/zu gestalten, die Bewegung der Geste des Dirigenten in eine musikalische Bewegung auf/mit ihrem Instrument umzusetzen. 

 

Roberto und Butch

 

Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen der Arbeitsweise von Butch Morris und Roberto Bonati. Butch Morris arbeitete grundsätzlich vom Nichts in ein neues Etwas. 

Roberto Bonati arbeitet mit seiner zeichensprachlichen Repertoire auf bestimmte Klangkonfigurationen hin, die über Noten oder offene, ungebundene Improvisation viel schwerer oder gar nicht erreichbar sind. Diese Konfigurationen sind vielfach kombinierbar, modellierbar, umkehrbar, verdichtbar, aufbrechbar und mit der Raumakustik zu vermählen, sodass sich eine groBe Variationsbreite von Realisierungen eröffnet. 

 

9 Sekunden Nachhall

 

Das Konzert in Parma, bei dem ich mit live painting eingebunden war, fand statt in dem Kirchengebäude der alten Valserana-Abtei ausserhalb der Stadt. Dieser Raum hat einen Reverb/Hall von nicht weniger als 9 Sekunden. Es kam also darauf an, diesen Raum klanglich zu erfüllen ohne die Klänge zum Kippen, Schrillen oder zur Überhitzung zu bringen. Die Musiker mussten ihren Klang entsprechend abstimmen. 

Es waren nicht nur die Gesten des Dirigierenden und die sicht- und fühlbare Lebendigkeit der Musiker, sondern auch das Aufsteigen der Musiker, deren Ausdehnung, Umhüllung, Eruption im dynamisch-dramatischen Wechsel in dem groBen Raum, die ergriffen und faszinierten. Damit war es in gewissem Sinne auch eine Antithese zu heute vielfach üblicher Musikproduktion. 

 

4 Kontrabässe vs. leeres Papierblatt

 

Für mich als visuellem Umsetzer/Kommentierendem war die grösste Herausforderung der unmittelbar massive breite Orchesterklang, während ich noch vor einem groBen weissen Bogen Papier saB. Das 19-köpfige Orchester hatte 4 Kontrabässe, 3 Vokale, Bassklarinette, Klarinette, 3 Saxofone, Flügelhorn, Trompete, elektrische Gitarre und drei Violinen. Hier in Echtzeit meinen Ausdrucksweg darin zu finden, erforderte einiges, zumal ja auch alles auf groBer Leinwand (ca. 5,00 m x 2,50 m) hinter dem Orchester für das Publikum sichtbar und verfügbar war.

 

 

 

 

 

 

Das erste Album des Orchesters, “il suono improvviso” (2018), umfasste 45 MusikerInnen. 

 


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