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Archives: Marillion: Misplaced Childhood

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Ich brauche eine bestimmte Energie, um diese Schallplatte zu hören. Es hat mit der Schule zu tun, auf der ich war, ein jahrhundertealtes humanistisches Gymnasium direkt neben der Kunsthalle. Es gab bestimmte Eltern, die ihre Kinder dorthin schickten, aber es gab auch andere. Hätte sich ein Schüler mehr für die Sexta angemeldet, hätte es drei Parallelklassen gegeben. So wurden wir in zwei Klassen eingeteilt, mit jeweils 39 Schülerinnen und Schülern. In meiner Klasse gab es zwei Drittel Jungen und ein Drittel Mädchen und in der „b“ war es umgekehrt. Ich war in einer Rowdyklasse gelandet, der Übergang von der Grundschule hierher war ein Schock, und ich kannte niemanden. In den Pausen schallten aus unserem Klassenzimmer Sprechchöre, die dem örtlichen Eishockeyverein die Meisterschaft herbeibrüllten, es gab Eishockeywettbewerbe mit Radiergummis und 30-cm-Linealen, Prügeleien, Beschuldigungen, Diebstähle von Schulmaterialien, schüchterne Referendarinnen wurden mit Orangenschalen und Papierkügelchen beworfen, Pulte wurden gerückt, des Geräusches wegen, es fielen auch bewusst Stühle, es gab Sprechchöre während des Unterrichts, die so veranstaltet wurden, dass die Sprechenden unerkannt blieben, und immer wieder stand der Direktor persönlich im Klassenzimmer und hielt scharfe Disziplinierungspredigten. Leistung zu erbringen, das galt damals als uncool und lächerlich. Neben dieser Verweigerung gab aber auch etwas anderes, eine andere Art von Intelligenz, jenseits der Normierung. Von Anfang an war klar, dass C einmal ein Konzertcellist werden würde. Auf allen Jahresabschlussfeiern spielte er Solo, er saß da, mit oft geschlossenen Augen, atmete hörbar ein oder aus, während alle den Atem anhielten. Ich spürte, mit welchem Respekt C aufgrund seines musikalischen Talents von den Lehrern behandelt wurde. A hingegen trat in der Mittelstufe in einer Rockband als Sänger auf, in einer Schachtel im Keller, in der ich alle meine Fotos aufbewahre, gibt es ein Bild, das A auf der Bühne zeigt, in bunten Shorts und weißem T-Shirt, das Mikro in der Hand, ganz in seinem Element. Er ist Opernsänger geworden. In der Untertertia kam N neu in die Klasse. Ich fand, dass er anders war als die anderen und ich war sofort und lange Zeit in ihn verliebt, ohne etwas zu unternehmen, weil ich irgendwie doch nicht daran glaubte. Vielleicht genoss ich auch nur meine Gefühle und wollte sie nicht gefährden. In der Mittelstufe saßen N und ich im Religionsunterricht nebeneinander, das Highlight der Woche. N spielte wie viele andere in der Klasse (und auch ich) Geige, wechselte später auf Posaune und wurde ebenfalls professioneller Musiker. – Alles Abschweifung bisher. „Misplaced Childhood“, dieses Album ist mit T verbunden. T saß neben mir im Latein-Leistungskurs. Eine der alten Sprachen mussten wir bis zum Abitur belegen. Wir saßen also nebeneinander, während wir, moderiert von unserem begeisterten Lateinlehrer, Senecas Briefe über die Freundschaft übersetzten, Schriften aus frühchristlicher Zeit, Ovids Metamorphosen. In T war ich nicht verliebt, aber ich mochte ihn und seine Jungsenergie neben mir, ein Hibbeln mit den Knien, ein bisschen Schweiß, die rötlichen Härchen auf seinen Unterarmen. Ich mochte die Art, wie er sich bewegte, es hatte etwas Unbeschwertes und Freies, wie er durch die Räume ging. Und ich wusste, dass er Marillion hörte.

„Misplaced Childhood“ ist das Meisterwerk dieser Band und trifft ins Zentrum der Stimmung dieser Zeit. Ein Sound zwischen Energie und Verzweiflung. Wir wussten, dass die interessanten Jobs auf Jahrzehnte besetzt waren. No future. Die Schlagzeile unserer Abiturzeitung lautete „Vom Abitur zur Müllabfuhr“ und auf der Titelseite gab es eine Karikatur, in der ein Schulabgänger sein Zeugnis jemandem, der eine Mülltonne schob, hinhielt, und der Müllmann sagte: „Was, mit einem Schnitt von nur 1,3 wollen Sie bei uns anfangen?“ Ich weiß nicht, was T nach dem Abitur gemacht hat. Da brach vieles auseinander.

Misplaced Childhood. Es gibt Passagen dieses Albums, die bei mir ein sofortiges Glücksgefühl auslösen. Die Rhythmen, die Wortspiele, die Stimmungswechsel zwischen Leichtigkeit und Dramatik, die lyrics, der gesamte Drive, die Dramaturgie. hey were singing a song for you well it seemed to be a song for you, the one I wanted to write for you // I was walking in the park dreaming of a spark when I heard the sprinklers whisper, shimmer in die haze of summer lawns. Und später, irgendwo, mit ganz anderem Ton gesungen: Waiting on the rain for I was born with a habit from a sign the habit of a windswept thumb and the sign of the rain. / I was born with a heard of Lothian. /

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Meine Mutter hatte die Todesanzeige aus der Zeitung ausgeschnitten, mir aber nie davon erzählt. Ich fand das Stück Papier irgendwann zufällig in der Küche. It´s started raining. Hey you, you´ve survived. Now you´ve arrived to be reborn in the shadow of the magpie.


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