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Archives: Jo Berger Myrhe

2021 1 Okt

Unheimlich Manoeuvre

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Der Heimlich-Handgriff (engl.: Heimlich-Manoeuvre) ist ein lebensrettender Handgriff, wenn die Atemwege einer Person durch einen Fremdkörper blockiert sind und diese deshalb keine Luft mehr bekommt. Er wird ausgeführt indem der Helfende mit beiden Armen den unteren Brustkorb des Betroffenen von hinten umfasst und einen ruckartigen Stoß in Richtung Zwerchfell ausführt, was natürlich auch nicht ohne Risiken für innere Verletzungen ist. Der Handgriff wurde von dem amerikanischen Arzt Henry J. Heimlich entwickelt, der ihn aber in seinem Arbeitsleben nie selbst einsetzen musste. Erst im Alter von 80 wendete er seinen eigenen Handgriff zum ersten mal in einem Restaurant an und dann noch einmal mit 96 (!) als sich in seinem Seniorenheim (vermutlich eher eine Seniorenresidenz) beim Essen eine 87-jährige Mitbewohnerin verschluckt hatte und er ihr damit das Leben rettete.

Um seinem Spiel zwischen Licht und Dunkelheit, dem Vertrauten und dem nicht fassbaren Unbegrenzten und zwischen dem Schönen und verführerisch Abgründigen wagte der norwegische Bassist Jo Berger Myrhe das Wortspiel des Unheimlich Manoeuvre als Titel für sein Debütalbum. Bekannt ist Myrhe als Teil des Trios Splashgirl und als Mitglied de Nils Petter Molvaer Quartetts mit dem er Buoyancy und Stitches eingespielt hat, sowie vielen anderen Kooperationen mit anderen norwegischen Musikern. Hier hat er sich nun erstmalig seinen eigenen musikalischen Vorstellungen zugewandt und mit einigen Kollaborateuren wie Kaveh Mahmudiyan, Jo David Meyer Lysne, Jana Anisimova, Morten Qvenild, und in einem zentralen Stück Olafur Björn Olafson und Viviane Wang in einer faszinierenden Gratwanderung zwischen Erhebendem und bedrohlichen Untiefen umgesetzt. Ausgangspunkt waren die Improvisationen mit seinem Bass, der in einer elektronischen Effektkette Klangeffekte weit jenseits des Erwartbaren hervorgebracht hat, die dann kongenial mit den anderen Gastmusikern zu etwas Neuem, fast Transzendenten transformiert wurden.

Aus dem Formlosen hebt sich zu Beginn Everything Effacing, hebt sich leise und mächtig bis der Bass einsetzt und dem unheimlichen Schweben nur einen weiteren Akzent verleiht, der sich erst im folgenden Stück sich langsam verdichtend an einer improvisierten, fast nur dahingetupften Pianolinie materialisiert, um sich gleich wieder aufzulösen. Erst in Aviary wird eine flüchtige Form gefunden, die sich traumverloren und schwermütig immer an der Grenze zur erneuten Auflösung entlangbewegt. Cynosure vertieft diese Stimmung, die scheinbar in der ewigen Zone der Dämmerung herumwandert und nur durch den gelegentlichen Klang einer Tombak nicht verloren geht. In Smallest Things Pt.2 trägt Vivian Wang ein Fragment aus einer Kurzgeschichte von Raymond Carver „I Could See The Smallest Things“, einer Nachtgeschichte mit offenem Ausgang, aber um so unheimlicherer Atmosphäre, vor. Fast wie eine programmatische Ansage für das Album. Gate Opens ist fast das fassbarste Stück des ganzen Albums, getragen von Jo David Meyer Lysne’s vorsichtig gezupfter Gitarre. Perils folgt dann mit einem gestrichenen Kontrabass, der erst perkussiv unterlegt wird und sich dann langsam in fremdartigen Räumen elektronischer Verlassenheit rhythmisch einfindet. Die letzten beiden Stücke Sustainer und Inner Relations sind auf unterschiedliche Weise sehr intim: das Erstere fließt in eine irgendwann kaum noch zu ahnende Unendlichkeit und Inner Relations spielt erneut über das Klangspektrum Myrhe’s Kontrabass mit freundlicher Abstraktion bis an den Rand eines musikalischen Niemandslandes.

Dieser Rand des musikalischen Niemandslandes findet sich auch im Zentrum des Covers wieder fast wie ein schwarzes Loch, das alle Annäherungen leise in sich aufnimmt und einen zeitlosen Zustand in der magischen Mitte entstehen lässt. Das erinnert mich an das Kunstwerk Descent Into Limbo von Anish Kapoor, das aus einem kleinen Raum mit einem mit Vantablack (ein nicht mehr lichtreflektierendes ultraschwarzes Pigment) ausgemalten 8ft tiefen Loch besteht, von dem nicht mehr zu erkennen ist, ob es ein Loch oder eine Fläche ist, was fatalerweise dazu führte, dass bei einer Ausstellung trotz Warnung ein Zuschauer hineinstürzte. An der Wand wird nur angemerkt “the sculpture is an expression of Kapoor’s interests in the formal and metaphoric play between light and darkness, inside and outside, the contained and the infinite, which underpins his sculptural oeuvre.”  Gilt programmatisch auch für Jo Berger Myrhe, den es hoffentlich noch zu vielen Manövern in den unwegsamen Nachtgefilden der Un-Heimlichkeit ziehen wird.

 
 


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