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Archives: Gabriele Tergit

2023 19 Nov

Effingers

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Da liegt er nun vor mir, der 900-Seiten-Klotz — bewältigt, jedenfalls, was das Lesen betrifft. Vor einigen Monaten hatte ich hier mit großer Begeisterung auf Gabriele Tergits Käsebier erobert den Kurfürstendamm hingewiesen. Da wurde Effingers natürlich zum Pflichtprogramm — obwohl man auf dem Cover bereits vom „Literarischen Quartett“ mit „Sogstoff! Lesen! Wirklich!“ angeblökt wird und mir die Buchrückseite in Großbuchstaben „Drei jüdische Familien und das Berlin zwischen den Weltkriegen: Die sensationelle Wiederentdeckung eines Jahrhundertromans“ entgegenschleudert. Da ist ja wirklich alles drin, was momentan Kasse verspricht.

Effingers hat solche an Kinoreklame erinnernde PR nicht nötig. Das kann man schon daran sehen, dass die Autorin mit dem Manuskript durch mehr als 20 Verlage ziehen musste, um das Werk endlich publiziert zu bekommen — sowas muss nicht, aber kann manchmal ein Qualitätssiegel sein, und hier ist es eines. Immer wieder wird in Rezensionen hervorgehoben, als Vergleich könne überhaupt nur Thomas Manns Buddenbrooks herangezogen werden.

Da liegt die Latte wirklich sehr hoch. Aber der Vergleich liegt nahe, denn beides sind über mehrere Generationen reichende Familienchroniken, noch dazu von vergleichbarem Umfang. Wir erleben die Achterbahnfahrten der verzweigten jüdischen Familien Effinger, Goldschmidt und Oppner über vier Generationen hinweg, zwischen 1878 und 1948. Wir lesen von Bankgründungen, dem Aufbau einer Autofabrik, den wunderbaren, riesigen Familiensitzen mit 180 Zimmern, aber auch dem Leben in der Provinz, den Todesfällen, den Geburten. Was Gabriele Tergit schon im Käsebier meisterhaft beherrschte, das wiederholt sie hier: Dialoge, Gespräche, die den Eindruck vermitteln, sie müsse unter dem Tisch gesessen und gelauscht haben. Während es ihr im Käsebier allerdings gelungen ist, mit solchen Dialogszenen die Handlung voranzutreiben, ziehen sie sich hier manchmal arg in die Länge. Immer wieder sitzen wir am Familienesstisch oder auf geschäftlichen Empfängen, und die Gespräche nehmen kein Ende. Aber unwichtig ist das alles nicht, denn dabei erfahren wir, was bei wohlhabenden Familien so alles passiert, und vor allem, wie sich das im Laufe der Jahre ändert.

Während noch zu Beginn ein wesentliches Thema ist, dass die Tochter schon 20 und immer noch nicht verheiratet ist (oder vielmehr: noch immer nicht geheiratet wurde — man achte auf den feinsinnigen Unterschied; Tergit liebt so etwas), einer der Söhne nach England zieht, dort großen Erfolg hat und fast zum Lord wird, bis — aber das sei hier nicht verraten. Ein anderer Sohn unterschlägt Geld im väterlichen Bankhaus — und wird zur Strafe nach Amerika geschickt, wie man das so macht, um den Skandal zu vermeiden. Ein weiterer Sohn (namens James) lebt von Papas Geld und ist nicht nur unverschämt gutaussehend und der Liebling aller Frauen, sondern er ist überhaupt so etwas wie der Gustav Gans der Familie. Die allerdings wirft ihm Nichtstun vor — denn sein Studium der Kunstgeschichte wird unter Geschäftsleuten nicht für voll genommen. Tergit gönnt ihm einen frühen Tod.

Frauen und das Studium, auch das ist ein wesentliches Thema des Buches, denn, wie gesagt: als die eigentliche Bestimmung der Frau wird in den Familien die Heirat gesehen, und das Studium bestenfalls als ein Weg dorthin. Der Erste Weltkrieg schlägt tiefe Wunden. Der Papa bringt seine Bank immer mehr in Schwierigkeiten, weil er eisern an seinen Geschäftsmethoden festhält. Schon 1920 im Münchener Zirkus-Krone-Bau hält ein junger Mann einen Vortrag, in dem er mit Hilfe von Statisten im Publikum erklärt, weshalb „der Jude“ an allem schuld ist und damit sein Publikum in den Bann schlägt — man muss nicht erwähnen, wer der Mann ist, man friert beim Lesen. Die Hyperinflation der 1920er Jahre wirft alles durcheinander und ruiniert vieles. Dass plötzlich Familien in den Stammsitz der Effingers eingewiesen werden, sorgt für Verstörung und Verbitterung — wie soll man denn jetzt seine Empfänge abhalten?

Das alles sind nur kleine Blitzlichter aus einem riesigen Handlungspanorama, an dem es im Prinzip nur eines zu kritisieren gibt: Das Buch ist einfach zu lang. Darin unterscheidet sich Tergit dann doch von Thomas Mann: Während ich beim Lesen zunehmend die Übersicht verlor, wer wer ist und zu wem gehört, wer wo lebt und was macht, ist bei den Buddenbrooks immer klar, wo in der Handlung man sich befindet. Auch sind nicht alle Zeitsprünge ohne weiteres nachvollziehbar. (Dafür muss man sich bei Mann erstmal durch die ersten mindestens 50 Seiten kämpfen, weil da wirklich jeder Knick in jedem Sofakissen beschrieben wird, während man bei Tergit sofort in der Geschichte „drin“ ist.)

Gabriele Tergit hat einen trockenen, sehr markanten Humor, sie trifft den Ton (die unterschiedlichen „Töne“ der verschiedenen Epochen), sie verfügt über die Fähigkeit, Komik in der Tragik zu entdecken, ohne ihre Protagonisten jemals vorzuführen. Welche Katastrophen auch passieren, sie versinkt nie in Mitleid, sondern bleibt Chronistin, und das macht es um so eindrücklicher. Sie wiederholt, was sie auch schon im Käsebier gemacht hat: Sie schildert sachlich, aber mit unbestechlichem Blick, wie sich in der Zeit der Weimarer Republik der Antisemitismus einschleicht, eher witzelnd zunächst, dann aber auf Resonanz treffend. Immer offener, immer abgefeimter wird er zum Judenhass und zum Alltag. Und die Familien werden immer mehr isoliert und drangsaliert — und schließlich abgeholt. Tergit übertreibt hier keine Sekunde; wer Victor Klemperers Tagebücher gelesen hat, weiß, wie das funktionierte, und sie selbst und ihre Familie hat es ja am eigenen Leib erlebt.

Man wundert sich schlussendlich nicht über die Schwierigkeiten, die Tergit mit den Verlagen hatte. Das wollte in den 1950ern einfach keiner hören. Als das Buch schließlich erschienen war, nahmen keine 40 Buchhandlungen es ins Programm auf.

Und es hilft nichts, man muss es aussprechen, auch wenn es einen würgt: Vieles in Effingers klingt verdammt aktuell. Im letzten Viertel des Buches drängte sich mir immer häufiger Georg Kreislers resignierte Stimme aus seinem Chanson „Weg zur Arbeit“ in den Hinterkopf: Es hat sich nichts geändert.

2021 7 Apr

Käsebier

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In den 1920er Jahren gab es im Norden Berlins „Carows Lachbühne“. „Und lassen ein infernalisch-langes Programm über uns ergehen: Steptänzer; eine sehr gute Akrobatengruppe; ein unsägliches Melodram, in der umfangreichen Hauptrolle die ebensolche Frau Direktor; ein Kritiker, über den das Publikum jucheit … Das Publikum freut sich überhaupt über alles, am meisten die Frauen, bei denen der Analhumor jeden anderen hinreichend vertritt,“ schrieb Tucholsky über diese Bühne. Nun kenne ich mich in den 1920ern ganz gut aus, und immer wusste ich irgendwoher, dass Erich Carow wohl das Vorbild für eine Romanfigur gewesen ist, habe aber nie herausfinden können, für wen und was für ein Roman das gewesen sein soll. Ich weiß es jetzt, und ich weiß nun auch, dass die Autorin Carow nicht als Vorbild beabsichtigt hatte. Die Presse klebte dem Roman aus Reklamegründen das Etikett „Schlüsselroman“ an, und Carow wurde den Käsebier nie mehr los.

Um dieses Buch nämlich geht es: Käsebier erobert den Kurfürstendamm, geschrieben 1931 von Gabriele Tergit. Die Geschichte beginnt im Winter 1929. Ein Reporter der „Berliner Rundschau“ sieht in einem Berliner Vorstadtkabarett in der Hasenheide den nicht unbegabten, aber durchaus mittelklassigen Volkssänger Georg Käsebier, und weil er sich in seiner Redaktion hocharbeiten möchte, schreibt er Käsebier zum Megatalent hoch. Damit tritt er eine Lawine los, die gesamte Presse steigt darauf ein und schießt Käsebier in die Umlaufbahn. Seine Auftritte sind ausverkauft, Karten werden schwarz gehandelt, eine Tournee startet, die Märkte werden geflutet mit Käsebier-Biografien, Fotobänden, Zigaretten, Puppen, Schallplatten, Ufa-Filmen. Das Ganze gipfelt darin, dass ihm ein eigenes Theater am Kurfürstendamm gebaut wird, mit Garagen, Läden und Wohnungen.

Die sich allerdings als völlig verbaut, am Bedarf vorbei entworfen und deshalb unvermietbar herausstellen. Und nach einem Jahr ist Käsebiers Höhenflug ohnehin beendet, er ist so schnell aus der Mode geraten, wie er Mode wurde. Man verrät nicht zuviel, wenn man sagt, dass das Theater am Ende abgerissen wird, Käsebier unerkannt in Kneipen auftritt, Handwerker pleite sind, die „Berliner Rundschau“ zu einem Krawallblatt modernisiert worden ist, das eingestellt wird — während der Geschäftsmann, der das angerichtet hat, schon wieder mit gutem Gehalt woanders im Trockenen sitzt. Man kennt diese Mechanismen, sie unterscheiden sich nicht sehr von den heutigen.

Aber das alles ist nur der rote Faden, der Witz des Romas liegt anderswo. Gabriele Tergit war Gerichtsreporterin des „Berliner Tageblatts“, damals eine der großen Berliner Tageszeitungen mit einer Viertelmillion Auflage, zweimal täglich erscheinend. Sie hat in diesem Buch das Kunststück fertiggebracht, alle möglichen Typen geradezu glashart und trotzdem mit großer Sensibilität zu portraitieren — die berühmten „Schöneberger Witwen“, die in ihren 12- bis 14-Zimmer-Wohnungen leben, von denen sie allerdings aus finanziellen Gründen schon zehn untervermietet haben, die Redaktionskollegen (zwei davon sind unmittelbare Denkmäler von Kollegen Tergits), das gesamte Geschwerl, das immer dort ist, wo die politische Stimmung und die Gewinnerwartung hintendiert, der kleine Unternehmer, der durch die Fehler anderer so verschuldet ist, dass ihm nur noch die Pistole bleibt, die großspurigen Mini-Goebbels, die ganz klein werden, wenn es gilt, Farbe zu bekennen, die fast schon zynischen gebildeten und gelangweilten Mittdreißigerinnen mit Doktortitel, die auch mit Körpereinsatz arbeiten, um geheiratet zu werden. Aber nicht immer ist das Zynismus. In der Person Käte spiegelt Tergit eine enge Freundin, und man versteht, wie jemand so wird. Der zunehmende, schleichende Antisemitismus, die dunklen Wolken am Horizont, die sich ausbreitenden Nazis, sie sind da. Nicht als Hauptthema, sondern als Bestandteil des Alltags und des Berufs. Und wer will, lernt in diesem Buch präzise, wie damals eine Zeitung gemacht wurde, von der Redaktionshierarchie bis zum Metteur (weiß noch jemand, was ein Metteur war?).

Das Faszinierende dabei ist, dass Tergit durchgehend über die fast 380 Seiten fast ausschließlich Dialoge einsetzt. Dabei trifft sie das Vokabular und die Sprechweise der diversen Typen und Charaktere punktgenau — das lernt man wohl bei Gerichtsverhandlungen, aber man muss auch ein Ohr dafür haben, und das hatte sie. Dass es bei diesem Endlosgerede manchmal zu Längen kommt, ist klar, macht aber nichts. Es dauert ein bisschen, bis man die Fäden beieinander hat, aber ab dann läuft man die Strecke mit und genießt, wie genau man fast die Stimmen hört. Die Trauerrede für die an Tuberkolose gestorbene zwölfjährige Tochter einer Kollegin wird in voller Länge wiedergegeben, man weint am Ende fast mit — merkt aber dann zunehmend, dass der Redner, der kurz zuvor im Zuge der Modernisierung der „Rundschau“ gefeuerte altgediente Redakteur Miermann (einer der beiden Redaktionskollegen, denen Tergit ein Denkmal gesetzt hat) hier gleichzeitig sein eigenes Testament verliest. Denn kurz darauf fällt er auf der Straße tot um, und obwohl er nie aktiv religiös war, fallen ihm als letzte Worte ein: „Schmah isroel, adonoi elohenu adonoi echod.“ Und man möchte die Figuren, die sich dann auf seiner Beerdigung in seinem Licht sonnen, mit dem Waschlappen erschlagen. — Tergit selbst hatte wohl ein wenig Skrupel wegen der Häufung jüdisch klingender Namen in dem Roman, aber die Lektorin überzeugte sie davon, daran nichts zu ändern, und ich denke, sie hatte recht. Tergit dürfte ohnehin gewusst haben, wovon sie sprach. Ihr wirklicher Name war Elise Hirschmann, sie schrieb auch für die „Vossische Zeitung“ und die „Weltbühne“ und landete nach einem ihrer Prozessberichte auf der Gegnerliste der Nazis. 1933 überfiel die SA ihre Wohnung. Sie ging mit Mann und Sohn dann zunächst ins Versteck, später ins Exil.

Verblüffend ist die Radikalität, mit der Tergit gegen Ende des Romans alles, aber wirklich alles, zu Bruch gehen lässt. Und das alles ist (fast) immer logisch und der Wirklichkeit abgelauscht. Meine Top-Bücher, die diese Zeit wiedergeben, waren und sind bis jetzt Erich Kästners „Fabian“ (ich empfehle die rekonstruierte Originalfassung, die vor ein oder zwei Jahren unter dem von Kästner ursprünglich vorgesehenen Titel „Der Gang vor die Hunde“ erschienen ist), und Hans Falladas „Kleiner Mann, was nun?“. Zukünftig wird Gabriele Tergits Roman bei mir in derselben Reihe stehen, und ich werde ihn nicht zum letzten Mal gelesen haben.
 
 

 


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