Manafonistas

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2014 7 Jun

Gregor öffnet seinen Plattenschrank (72)

von: Gregor Mundt Filed under: Blog | TB | 2 Comments

Ruth Ozeki war mir bis vor einigen Wochen kein Begriff, dann kam der Tipp von Michael, doch einmal das Buch Geschichte für einen Augenblick zu lesen, zwei Tage später war ich bereits im Bann dieses Romans. Der Fischer-Verlag schreibt über seine Autorin:
Ruth Ozeki ist Autorin, Filmemacherin und Zen-Priesterin. ›Geschichte für einen Augenblick‹ ist ihr dritter Roman; er wurde mit dem Preis der Unabhängigen Buchhändler in Großbritannien ausgezeichnet und stand auf der Shortlist zum Man Booker Prize 2013. Ruth Ozeki lebt in New York und auf einer kanadischen Insel. Sie kam 1956 in Connecticut zur Welt, als Tochter eines Amerikaners und einer Japanerin.“
 
 
 

 
 
 
Es geht um drei Protagonisten in diesem 560 Seiten starken Buch: Nao, Ruth und Jiko. Nao ist ein japanischer Teenager, sie lebte mit ihren Eltern einst in den USA, in Sunnyvale/Kalifornien, wo ihr Vater als Programmierer einen sehr guten Job hatte. Später bekam er eine tolle Anstellung in Silicon Valley, allerdings ging die Firma, in der Naos Vater arbeitete, pleite und die Familie sah sich gezwungen, nach Japan zurückzukehren. Hier lebt Naos Dad mit seiner Frau und einzigen Tochter nun in Tokio in einer winzigen, ärmlichen Wohnung. Er ist arbeitslos, versinkt mehr und mehr in Depressionen, schließlich unternimmt er einen Suizidversuch.- Nao geht es in der Schule ganz grauenhaft, sie hat keine Freunde, Mobbing übelster Sorte ist an der Tagesordnung. Es gibt nur einen Trost in ihrem Leben und das ist die hundertundvierjährige Urgroßmutter, Jiko, die nach dem Tod ihres Sohnes – er war Kamikazepilot im Zweiten Weltkrieg – als Nonne lebt. Die Beziehung zwischen den beiden wird so eng, dass Nao eines Tages beschließt, über Jikos Leben und sich selbst zu schreiben. Aber für wen, wer würde sich dafür interessieren? Ein Internetblog wird schnell aufgegeben, weil ihr schnell klar wird, dass niemand die Zeit hat, ihre Geschichten zu lesen, „weil alle so mit Schreiben und Posten beschäftigt sind“.
 
 
 

 
 
 
Nao schreibt ihre Aufzeichnungen in ein altes Buch von Marcel Proust: A la recherche du temps perdu. Sie hatte nämlich in einem Laden Bücher entdeckt, die jemand so bearbeitet hat, dass die Buchdeckel, das äußere des Buches, erhalten blieb, die Seiten aber herausgeschnitten und leere Seiten eingeklebt wurden, eine gute Tarnung, ein Schutz vor neugierigen Lesern. Nao schickt dann eines Tages dieses Buch eingepackt in eine Hello-Kitty-Lunchbox und einen Gefrierbeutel auf die Reise. „Wie eine Flaschenpost, die auf dem Ozean von Zeit und Raum schwimmt. Absolut persönlich und auch wirklich, direkt aus der unvernetzten Welt von Jiko und Marcel. Das ist das Gegenteil von einem Blog. Das ist ein Antiblog, weil es nur für eine bestimmte Person gedacht ist, und diese Person bist du. … Wie cool ist das denn? Es ist als würde ich in der Zeit vorgreifen und dich berühren, und jetzt, da du es gefunden hast, greifst du zurück und berührst mich!“ Die Person, die das Buch auf der anderen Seite der Welt in einem von Seetang und Muscheln verschlungenen Gefrierbeutel findet, ist die Ruth, die mit ihrem Lebensgefährten, Oliver, auf einer einsamen kanadischen Insel lebt. Die Autorin Ruth Ozeki wechselt nun ständig zwischen den Tagebuchaufzeichnungen und dem Leben von Nao auf der einen Seite und dem Leben von Ruth und ihrem kranken Lebensgefährten auf der anderen Seite des Ozeans hin und her und zeigt, wie sich das Leben von Ruth und Oliver durch die fortschreitende Lektüre verändert.
 
 
 

 
 
 
Das Buch ist fantastisch, ich bin versucht zu sagen: LESEBEFEHL! Es ist hochinteressant, nicht spannend wie ein Kriminalroman, aber fesselnd ist es doch. Man erfährt ungeheuer viel über Japan, Religion, Kultur und Mythologie. In über 100 Anmerkungen werden japanische Schriftzeichen, Weisheiten, Wörter erklärt, auch ein Literaturverzeichnis findet sich am Ende des Romans.
Für die neugierig gewordenen Leser dieser Zeilen: es gibt zu dem im englischen Orginal erschienenem Buch A Tale for the Time Being einen dreiminütigen Official Book Trailer, dieser findet sich auf der ohnehin interessanten web-Seite der Autorin: ruthozeki.com.

Und zur Musik: Für mich war besonders passend zur Lektüre des Buches vor allem eine Platte:
Ensemble Economique: Interval Signals, aber auch Zeitblom mit Heaven And: Bye and bye I’m going to see the king, und Charcoal Owls von Tin Roof, natürlich auch Musik von Nick Drake. Ein lesenswertes Interview mit der Autorin, Ruth Ozeki, findet sich übrigens im Online-Magazin des S.Fischer-Verlages, hundertvierzehn.de
 
 
 

 

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2 Comments

  1. Jana B:

    Die Musik vom Ensemble Economique ist eine gelungene Inszenierung von Weltempfängern mit exotischen Stimmen und Sounds. Es drängt sich nie auf, und verlangsamt das Lesen der Augenblicke.

  2. Michael Engelbrecht:

    Interval Signals, one of two recordings from Brian Pyle’s Ensemble Economique solo project, is a 40-minute pastiche of field recordings, radio sounds, and as the album’s title implies—interval signals.

    There is a comforting sense of familiarity in the sort of noise featured in this recording—broadcast signals, rain, conversational voice, and what sounds like traffic.

    Instrumental sounds, such as a stray organ or piano melody, layer into elements of musique concrete. At its best, Interval Signals recalls another time and place, distant or perhaps imagined— the music and sensation it creates are consistently unique. –T.H.


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