Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2023 7 Feb

Wie hören wir, wenn wir hören?

von: Lajla Nizinski Filed under: Blog | TB | 16 Comments

 

Mein Gott, du hörst mir ja wieder nicht zu.

 

Mit offenen Augen durch die Welt gehen, ist uns eine geläufige, gut gemeinte Aufforderung zur Neugierde. Aber mit offenen Ohren durch die Welt ziehen, ist eine bisher unausgesprochene Einladung. Warum eigentlich? Sind wir vom Schauen genervt, klappen wir unsere Augenlider einfach runter. Diesen körpereigenen Schutzmechanismus haben die Ohren nicht. Liegt es daran?

Als Schüler trainierten wir unser Gehör im „Hitparadenpfennigspiel“. Wir legten eine Schallplatte auf und wer bereits beim ersten Ton den Hit erkannt hatte, bekam 10 Pfennig. Aus dieser Zeit stammt meine Unsitte, einen ganzen Song nur nach den Anfangstakten zu beurteilen. Wahrscheinlich sind mir durch dieses emotional assoziative Hörverhalten einige tolle Musikstücke entgangen. Wie hören wir, wenn wir hören?

 

„Um welches Geheimnis handelt es sich, wenn man im eigentlichen Sinne zuhört, horcht, lauscht, sprich, wenn man sich bemüht, eher die Klanglichkeit zu fassen oder zu erhaschen als die Botschaft?“

 

Auf was konzentrieren wir uns primär, wenn wir ein Musikstück hören, auf den Sound oder die Lyrics? Wieso hat der Klang generell eine so große affizierende Wirkung? Von mancher Musik, wie zum Beispiel den Flamenco Klängen, fühle ich mich regelrecht attackiert. Musik ist für mich innerhalb des art-circles die Kunst, die mich am schnellsten und tiefsten ergreift. Ein besonderes Ekstasepotential haben für mich zum Beispiel Songs wie OHIO von CSNY, BOTH SIDES NOW von Joni Mitchell oder der Auftritt von Patti Smith vor dem Nobelpreispublikum mit Bob Dylan‘s A HARD RAIN IS GONNA FALL

Gestern Abend ging ich durch einen engen, einspurigen, etwa 1 km langen, nur spärlich beleuchteten Tunnel. Ich vernahm ein undefinierbares Geräusch, das mich beunruhigte. Ich begann laut zu singen, damit der Schall in diesem langgezogenen Raum den dumpfen Laut übertönte und mir das Echo meiner Stimme meine lebendige Gegenwart bewusst machte. Ich hatte „Heart of Gold“ gesungen. Der unbekannte Geräusche verursachende Lauscher könnte für diesen schönen Song ein offenes Ohr gehabt haben.

 

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16 Comments

  1. Lajla Nizinski:

    Zu diesem Text hat mich das Buch DAS GEHÖR von Jean-Luc Nancy (französischer Philosoph 1940-2021) inspiriert.

  2. Uli Koch:

    Es geht mir oft so, wenn ich neue Musik empfohlen bekomme, dass ich nach den ersten Klängen – ganz klar nicht nach den ersten Takten – sagen kann, ob diese Musik mir gefällt oder nicht. Dabei ist es erstaunlicherweise sehr selten, dass ich später ein ablehnendes Urteil revidieren muss, nur umgekehrt kann es schon viel eher passieren, dass ein Album oder ein Stück mit einem richtig interessanten Intro beginnt und wenn dann der Hauptteil einsetzt nur noch ein müdes Gähnen hervorruft.

    Darüberhinaus kann ich Dir nur zustimmen, dass mich Musik sehr viel zuverlässiger und häufiger tief ergreift als Produkte anderer Kunstformen …

  3. Lajla:

    Es ist ja noch nicht bekannt, wie sich das Sehen zu dem Hören verhält. In der Malerei gibt es Werke, die musikalische Assoziationen hervorrufen können. Kandinsky gehört dazu, auch Cy Twombly. Umgekehrt ist es auszuprobieren, ob das Hören von Musik eine direkte Verbindung zum Zeichnen haben kann. Henning übt das z.B. seit Jahren.

  4. Uli Koch:

    Kenne eine Künstlerin, die sich in ihrem Studio gerne laut Musik einschaltet, um sich dann davon inspirieren zu lassen. Gerade ihre Ausstellung, wo ausschließlich Jazz im Hintergrund hat beim Betrachten quasi „geklungen“, man konnte förmlich sehen, was sie bei einzelnen Bildern gehört hatte. War eine sehr beeindruckende Erfahrung…
    Sonst fallen mir spontan die Stücke von Morton Feldman, die er zu Bildern von Mark Rothko und Philip Guston komponierte.

  5. HDK:

    Als ich mir nur 3 Schallplatten pro Jahr leisten konnte bekam ich vom »Ring der Musikfreunde (Köln) – da war ich Club-Mitglied – eine Werbeplatte zugeschickt. Die Scheibe war klein, von Rand zu Rand 17 cm, und konnte nur Appetithäppchen verteilen. Eines hat mir wahnsinnig geschmeckt. Zu hören war nur der Anfang mit dieser verführerisch melancholischen Melodie. Ich kaufte die teure LP, Rachmaninoffs Klavierkonzert No. 3 mit Emil Gilels.

    Rachmaninoff, der viel geschmähte – vor allem Anhänger und Verteidiger der »Schönberg-Schule«, allen voran Theodor W. Adorno, haben seine Musik einer oft vernichtenden Kritik unterzogen – hat mich auf den Weg zur Musik des 20. Jahrhunderts geführt. Als ich die Aufnahme zum ersten Mal abspielte, war ich ernüchtert. Da war so viel Unbegreifliches zu hören. Aber immer wieder tauchten Inseln von jener Schönheit, wie ich sie mochte, auf. Es war jedesmal ein Warten und Erwarten bis ich dort landete. Bei jedem Hören wurden die Inseln größer, zuerst unmerklich. Sie sind längst zum Festland zusammen gewachsen. Rach 3 gehört zu meinen viel gehörten Musikstücken.

    Wenn’s hoch kommt, habe ich manches Stück dutzende Male angehört. Und wenn es sich als köstlich erwiesen hat, dann haben die Mühe und Ausdauer sich gelohnt.

    Nun hängt es sicher von der Länge eines Musikstücks ab, ob ein erster flüchtiger Eindruck zuverlässig genug ist für ein treffliches Urteil. Das Rachmaninoff-Häppchen dauerte vielleicht eine Minute, das ist ein Siebtel bis ein Drittel der Länge eines Popsongs. Rach 3 – so der nickename dieser phänomenalen und hoch komplexen Komposition – dauert rund 42 Minuten, jedenfalls in der Interpretation des 18-jährigen Yunchan Lim beim Van-Cliburn-Wettbewerb 2022. Dieser Auftritt wird bei YouTube in Kürze 1.000.000 Abrufe erreichen und gilt als Meilenstein in der Interpretations-Geschichte von Rach 3.

    Mir scheint, Yunchan Lim fesselt mich auf meine alten Tage in ähnlich intensiver Weise wie der junge Keith Jarrett als ich ein Jüngling war. Am 18. Januar spielte YCL einen Klavierabend in der Wigmore Hall zu London, darin zu hören Ludwig van Beethovens op. 33 (7 Bagatellen) und op. 35 (Eroica-Variationen). Toll, wie dieser 18-jährige Junge den geistreichen Witz, die subtilen und drastischen Seiten dieser Klaviermusik freilegt.

    LINKS

    THE CLIBURN – Rachmaninoff, Klavierkonzert No. 3
    https://www.youtube.com/watch?v=DPJL488cfRw
    WIGMORE HALL – Recital
    https://www.youtube.com/watch?v=Z-glLml5OKQ
    ZAZEN BOYS – da bin ich nach den ersten Klängen dabei
    https://www.youtube.com/watch?v=uDgT26Dnr80

  6. Lajla:

    Es gibt ein sehr schönes Gemälde von Peter Doig. Er betitelt es mit „Music of the Future“. Ich weiß, dass Doig immerzu Musik hört, während er malt. Ich kann trotzdem die Musik in seiner Malerei nicht hören.

  7. Lajla:

    a Van Gogh-style night study titled Music of the Future (2002-07), in which a lakeside village is pictured horizontally in a haze of dark blues and greens. It owes something to Whistler’s Nocturnes, hence the musical analogy perhaps, but also to Doig’s sense of an outsider looking across at a culture which is vibrant but also not part of him …“ (Adrian Hamilton, © independent.co.uk, 4 August 2013)

    Read more: http://ind.pn/1eAsnv1

  8. Karsten:

    @HDK und alle anderen:

    Vielleicht ist dies eine gute Gelegenheit, dringend auf den „Klavierabend Yuya Wang“ hinzuweisen, der wohl (nur noch) bis zum 14.02. in der 3Sat-Mediathek zu hören und sehen ist. Das Programm (u.a. Kapustin, Ligety, Glass) passt eigentlich perfekt ins Manafonistas-Spektrum. In jeder Hinsicht atemberaubend!

  9. Lajla:

    Super Hinweis, danke Karsten.

  10. Lajla:

    Herr Klinger, Ihr Name ist Programm. Danke. Inspirierend wie immer, obwohl ich gerade von Ihnen immer so viel Haue wegen meiner Liebe zu Rock, Pop etcétera bekam ;) ganz zu schweigen von meinem Biathlonhang ;) Also mein Song, der Sound und Botschaft in gleicherweise vereint, ist THE END von den Türen. Tausendmal gehört.

  11. Ursula Mayr:

    Also ich spür Musik in den Knochen – wenn nicht dann war es nicht die richtige für mich.
    Die Szene mit dem Tunnel ist eindrucksvoll, in München haben wir auch so einen dysfunktionalen schwarzen Enddarm, in den sich keine Frau hineintraut.Falls man dort jemanden trifft kann man nur noch ein Heart of Gold erhoffen. Ich überlege was ich gesungen hätte, vermutlich eher ein frischfröhliches Wanderlied. Auf, auf zum fröhlichen Jagen…was natürlich für einen eventuellen Verfolger auch wieder eine Aufforderung sein könnte….

  12. HDK:

    @Lajla (sic!)

    vor Kurzem stand hier Ihr Text

    Ich habe die Tür aufgemacht und THE END nach langer Zeit mal wieder gehört – ist schon ein herber goodbyesong

    jetzt isser wech (der Text)

    Wenn Sie noch meine eMail-Adresse haben, können Sie ihn mir gerne(?) zusenden. Ich hätte ihn gerne(!) in meiner Erinnerungen-Schachtel

  13. HDK:

    @Karsten

    prima Tipp – ich habe das Konzert auf 3sat gesehen
    eine erlesenes Programm, beyond mainstream. Neben den schon genannten Komponisten hört man
    Albéniz
    Skrjabin
    Beethoven
    Márquez
    Brahms
    Gluck

    am leichtesten findet man das Video auf der Webseite mediathekviewweb punkt de per Eingabe des Namens Yuja Wang (sic! nicht Yuya). Es ist auch der Download möglich, solange das Produkt in der Mediathek bereit gestellt ist

    —–
    bei dieser Gelegenheit möchte ich einen sachlichen Fehler in meinem nachmittäglichen Beitrag berichtigen:
    nicht 1.000.000 Abrufe wird Yunchan Lims Rach3 erreichen,
    sondern 10.000.000 – in Worten ‚zehn hoch sieben‘

  14. HDK:

    ein kleines Kapustin-Schmankerl, gespielt von meinem japanischen Lieblingspianisten Cateen:

    Nikolai Kapustin – Toccatina, aus 8 Koncert Etuden Op.40 No.3
    https://www.youtube.com/watch?v=EmcEQwvEw6g

  15. Lajla:

    @ U, bei einem Jagdlied hätte vielleicht jemand zurückgeschossen?;)

  16. radiohoerer:

    Es geht also um das Musikhören oder wie wir Musik hören. Ich praktiziere gern das unbewusste Hören. Also arbeite ich z.B. in der Küche und höre nebenbei Musik. Meist sind das aktuelle Neuveröffentlichungen oder Radiosendungen wie Late Junction. Und dann passiert es, dass ich plötzlich hellwach bin, weil da etwas Besonderes läuft, das mich sehr anspricht. Dann sehe ich nach, wer war das und höre mir dann mehr davon an. Oder es kommt Musik zu mir, von der ich bis dahin noch nie etwas gehört hatte und die mich „umhaut“. Otto Sidharta z.B. oder Simon Scott, Emmanuel Mieville. Neues von Holsen & Cassiers, Hannah Kendall, Malika Kishino, Denis Dufour. Aber auch das geht gern: Nachts Misha Alperin: At Home oder zum Mitsingen Gentle Giant: „Three Friends“. Oder, ganz verrückt, ein junges deutsches Jazztrio: Simon Lucaciu Trio.


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