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2023 24 Jan

Der Spiegel der Schneekönigin

von: Ursula Mayr Filed under: Blog | TB | 9 Comments

 
 

Teenager-Dystopien: Ein eigenes Genre

 

In den Jahren 2010 bis 2020 hatten die Teenager-Dystopien in Literatur und Kino Hochkonjunktur: Maze Runner, The Giver, Die 5. Welle, Seelen oder die postapokalyptische Serie Lost. Interessanterweise bilden die Erscheinungsjahre dieser Filme ein Cluster um das Jahr 2014, das Jahr in dem die Taliban den islamischen Staat ausriefen; zum ersten Mal beherrschten die radikalen Muslime durch ihr Vordringen in den Irak ein zusammenhängendes und grenzüberschreitendes Gebiet unter ihrer Alleinherrschaft und kochten fröhlich das Mittelalter auf. Grund genug für dystopische Zukunftsphantasien; bei Hinzunahme der Ukrainekrise im gleichen Jahr und Putins aggressiver Expansionspolitik wären das zwei fulminante Abstürze in die Anfänge des Paläozoikums. Ist natürlich Spekulatius – wie Micha sagen würde – aber man sollte immer die Gesamtsituation im Blick haben.

Im Gegensatz zur Fantasy, angesiedelt in einer Parallelrealität oder irgendwo im Outer Space, bewegt sich die Dystopie auf dem Zeitstrahl weiter in eine ferne Zukunft, zeichnet eine Szenerie von oft atemberaubenden technischen Errungenschaften, aber gemanagt von Menschen, die sich auf dem Zeitstrahl eher rückwärts Richtung Neandertal bewegt zu haben scheinen. Eine spannungsreiche Dialektik, in Deutschland erstmalig erprobt von Wolfgang Menge in Das Millionenspiel 1970. Ein paar aufrechte Teenager werden in diese Situation geworfen (in der Filmwelt nennt man das Cold Open) und müssen sich dort zurechtfinden oder wahlweise in ihr zugrunde gehen. Im 21. Jahrhundert gelang nach Harry Potter der gender switch, ab jetzt waren die Mädels für die Rettung der Welt zuständig. Auch was wert!

Vor einigen Wochen sendete das Fernsehen wieder den erfolgreichsten dieser Epen, den 5-teiligen Film Die Tribute von Panem nach der Romanvorlage von Susan Collins (2008). Das Neandertal ist hier verortet in einer hochtechnisierten Zukunft aber gleichzeitig auch in der Antike und ihrer schlechten Panem-et-Circenses-Angewohnheiten, organisiert nach den Prinzipien einer gnadenlosen Klassengesellschaft und einer verelendeten und resignierten Unterschicht, in der die Verarmten im Wald wildern müssen, um sich zu ernähren. Die Hauptdarstellerin Katniss läuft also durch die Gegend wie weiland der Wildschütz Jennerwein in den Tegernseer Bergen und erlegt Eichhörnchen.

Staat und Gesellschaft laufen ins Leere eines entfesselten Haifischkapitalismus, Familienstrukturen und Berufe geben keinen Halt mehr. Teenager müssen sich hier zurechtfinden, ebenso wie sich die Generation Y heute in unserer Gesellschaft zurechtfinden muss. Die fühlt sich zwar digital gut gerüstet – ähnlich der Protagonistin im Film, die mit Pfeil und Bogen ihre Familie ernährt – findet aber keine ethischen und sinngebenden Strukturen mehr  und sieht ihre eigenen Lebensentwürfe nicht mehr verwirklichbar.

Die schöne Heldin mit der Seele eines Spartakus und der Pfeilsicherheit eines weiblichen Wilhelm Tell soll an den jährlich stattfinden Hunger-Games teilnehmen, in dem Jugendliche von 12 bis 16 Jahren aus allen Distrikten wie Gladiatoren gegeneinander kämpfen müssen, bis nur noch einer übrigbleibt: eine post-antike-Wrestling-Show. Es treten also Kinder gegeneinander zum Kampf auf Leben und Tod an. Bei Erscheinen des Filmes hat mich das zutiefst schockiert – auch in Anbetracht der Freigabe ab 12 Jahre. Erschreckenderweise – für mich – waren aber die Kids überhaupt nicht erschrocken, sondern nahmen es hin und fanden es spannend. Ebenso wie Katniss – deren Gesicht ständig in langen Totalen zu betrachten ist – keineswegs Fassungslosigkeit ausdrückt, sondern eher Ergebenheit und Sich-Einstellen auf die nächste Lebensbedrohung, die sich in rascher Folge und in vielen Variationen einstellt. Sind die Millenials auf das Homo-homini-lupus-Play schon so komplett eingeloggt, sodass sie nichts mehr schockiert?

Und dann der Kampf jeder gegen jeden, gnadenloses Entertainment, das unser Big Brother- und Dschungelcampgetöse durchaus zu toppen weiss. Samt erster Bildung von Seilschaften und Allianzen unter den jungen Gladiatoren, die sich zusammenrotten gegen einzelne – das Mobbing-Prinzip wurde also auch internalisiert.

Alles, was jetzt in Form von Reality-TV noch hier im Keim ist, wird dort konsequent zur Blüte getrieben; das ist die postmoderne kapitalistische Gesellschaft auf den Punkt gebracht im Mikrokosmos dieser Hunger Games. Inklusive des grenzenlosen Zynismus des Regimes, das den Show-Wert einer schönen jungen Revolutionärin erkennt und medial zu nutzen weiss. Hätten wir uns Che Guevara übers Bett gepinnt wenn er nicht so gnadenlos gut ausgesehen hätte? Fidel Castro jedenfalls hing da nie, Enver Hodscha nur einmal. Eine Revolution, als mediales Ereignis auffrisiert, ist natürlich ein Papiertiger. Ein Revolutionär, der an allen Wänden hängt, wäre auch misstrauisch zu betrachten – beziehungsweise derjenige, der ihn dorthin gepappt hätte.

So geht es auch Katniss zunächst, als sie und ihr Jugendfreund Peeta zum Ende des Spiels übrigbleiben und sich weigern, sich gegenseitig umzubringen und lieber Giftbeeren schlucken wollen. Das Regime schaltet blitzschnell um und baut die beiden als revolutionäres Liebespaar auf, das füreinander in den Tod gehen will. Weitere Show-Events werden folgen, sind ja noch 4 Sequels im Kommen.

Ein grausamer, aber im Grunde kluger Film, der der Gesellschaft den Vergrößerungsspiegel entgegenhält und das Kinderabschlachten mit der gebotenen Zurückhaltung gestaltet. Die Voyeure werden nicht über die Maßen bedient wie in anderen Teenie-Horror-Produktionen. Und die Generation Y fand sich wohl darin wieder: Einspielergebnis 1,5 Mrd.

Und beim Abschalten finden wir selbst uns wieder in der schreckenerregenden Position des Panem-et-Circenses-Betrachter (die wir gerade noch auf der Leinwand verabscheut haben, während wir selbst es gerade zweieinviertel Stunden praktizierten und uns blendend unterhielten) und erkennen, dass wir damit Teil des Systems sind, das wir auf der Leinwand entsetzlich fanden. Der Spiegel der Schneekönigin, der uns die hässliche Seite zeigt.

 

P.S.: Eine junge Klientin zeigte mir vor Jahren stolz ihr cooles Che-Guevara-T-Shirt.

 

– Rosi, das ist jetzt aber Fidel Castro!
– Nöö, Che Guevara!
– (Etwas Hin und Her, dann kurze Smartphone-Recherche …)
– Mist, doch Fidel Castro!
– Weisst Du denn, wer das war?
– Nöö! Aber is doch wurscht!

 

Tja – wenn’s geil ausschaut … mach was dran …! Selenskyj sieht ja auch nicht gerade aus wie der Glöckner von Notre Dame in seinen Khakipullis. Gibt’s den auch schon auf T-Shirt?

 
 

This entry was posted on Dienstag, 24. Januar 2023 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

9 Comments

  1. Jochen:

    Die enorm erfolgreiche südkoreanische Serie Squid Game passt wohl auch in dieses Genre. I dropped it after a few minutes. Allerdings, die erste Episode der dystopischen Serie The Last of Us war dann doch erstaunlicherweise sehr packend.

  2. Ursula Mayr:

    Ich glaube, Squid Game toppt das alles noch. The Last of Us kenne ich noch nicht.

  3. Ursula Mayr:

    Selenskyj-T-Shirt gibts!

  4. Anonymous:

    Ich musste da mit meiner Enkelin reingehen und war ebenfalls geschockt von diesem Kinderkrieg, sie hat es gut ausgehalten. Argument: In Afrika gibt es doch auch Kindersoldaten.

  5. Ursula Mayr:

    … und bei „Wetten dass“ hat sich einer das Genick gebrochen.

  6. Jörg R.:

    Könnte nicht auch beim Teenie-Horror ein Stück Sadismus befriedigt werden?

  7. Ursula Mayr:

    Meinst Du den Alltagssadismus des Horrorfilmschauers oder die spezielle durchaus verbreitete Aggression gegen „die Jugend?“

  8. Jörg R.:

    Mehr Letzteres!

  9. Ursula Mayr:

    Meiner Erfahrung nach steckt dahinter oft ein Neidproblem – auch auf die Chance zum Neuanfang, die besseren Möglichkeiten, die Verbitterung über das eigene Leben.


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