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2023 21 Jan

Das Mafia-Spiel

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | 1 Comment

Die erste Story aus Jonathan Lethems Erzählsammlung Men and Cartoons (New York 2004, deutsch: Menschen und Superhelden, 2005) hat den Titel Vision. Vision ist der Name eines Jungen, der dem Protagonisten, Joel Porush, im fünften Schuljahr während eines Kickball-Spiels in der Turnhalle der Public School 29 zum ersten Mal begegnet. Dann gibt es einen Zeitsprung und Vision ist ein erwachsener Mann im Sweatshirt, der Umzugskartons in das Haus, das dem von Joel benachbart ist, transportiert. Joel wird zu einem Spiel-Abend eingeladen. Für das Mafia-Spiel brauchte man 15 Personen. Eine davon ist der Erzähler. Diese Rolle übernimmt Vision. Dann werden durch verdeckte Karten Rollen verteilt. Es gibt drei Mafiosi und elf Dorfbewohner. Das Spiel wird geprägt durch den Rhythmus von Tag und Nacht. Nachts müssen alle die Augen schließen und die Köpfe senken. Nur die Mafiosi dürfen sich untereinander mit Blicken darauf verständigen, welchen Dorfbewohner sie umbringen wollen. (Das Spiel erfordert einen Erzähler, der streng über die Einhaltung der Regeln wacht.) Am Morgen scheidet die ausgewählte Person dann aus. Tagsüber dürfen alle miteinander sprechen. Die Mafiosi sind darauf bedacht, nicht erkannt zu werden. Am Abend einigen sich die Dorfbewohner auf eine verdächtige Person, die gelyncht wird, also ebenfalls aus dem Spiel ausscheidet. Der Reiz des Spiels besteht darin, die anderen über die eigene Identität zu täuschen, wenn man zur Mafia gehört, und die anderen Spielerinnen und Spieler einzuschätzen. Ziel des Spiels ist es, als Gruppe zu überleben. Als Gesellschaftsspiel für eine Einladung, auch noch für eine erste Einladung, kommt es mir aus europäischer Perspektive etwas gewalttätig vor. In der Story geht es auch noch um eine Comicfigur, um große Bekenntnisse während eines weiteren Spiels und um einiges mehr. Ich hatte von Jonathan Lethem noch nichts gelesen und wollte mir einen Eindruck verschaffen; es ist eine klassische, US-amerikanische Story, alltagsbezogen und etwas schräg, für meinen Geschmack etwas zu sehr von creative writing-Methoden und ihren angeblichen Erfolgsrezepten geprägt. So könnte die Story Vivian Relf auf folgender Hausaufgabe basieren: „Schreiben Sie über eine Begegnung von zwei Personen auf einer Party, die beide davon überzeugt sind, einander vorher schon irgendwo getroffen zu haben. Weitere Begegnungen nicht ausgeschlossen ;) Achten Sie auf Humor, auf funktionierende Dialoge und auf die Spannungskurve. Schreiben Sie 15 bis 20 Normseiten.“ Die entscheidende Frage der Story ist natürlich die, wo sich die beiden zuerst getroffen haben. Jonathan Lethem erhält einen Pluspunkt für die Idee, dass sich beide geirrt haben. Sie haben sich auf der Party, auf der sie einander wiedererkannt haben, zum ersten Mal gesehen.

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1 Comment

  1. Olaf Westfeld:

    Irgendwann – könnte aber gut schon 20 Jahre her sein – habe ich mehrfach den Roman „Motherless Brooklyn“ von Jonathan Lethem verschenkt und lag damit immer richtig – ein sehr gutes Buch in meiner Erinnerung. Die Verfilmung habe ich erst in diesem Jahr geguckt und auch die war ganz sehenswert, da hatte ich nicht mit gerechnet. Dann habe ich noch zwei andere Lethems gelesen, die ich beide aber mehr so ganz gut/okay fand. Allerdings habe ich durch „The Fortress Of Solitude“ erst „Another Green World“ und überhaupt so richtig Brian Eno kennen gelernt, das hat mich/ meinen Musikgeschmack also schon irgendwie geprägt.


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