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2023 3 Jan

Hyperkulturalität in der Musik

von: Uli Koch Filed under: Blog | TB | Tags:  16 Comments

Kleiner, slash, no bar, größer, kleiner, slash, i, able, größer
Gleich, center, größer, gleich, slash, d, ist gleich, they, body, slash
Klammer auf, c, html, ist gleich, kleiner, Ausrufezeichen, doctype, html, public, in Anführungszeichen
Minus, slash, slash, w, drei, c, slash, slash, dt, d, html, 4 Punkt, transitional
Slash, slash, e, n, größer, kleiner, html, größer, kleiner, head, größer
Content, type, ist gleich, content, in Ausrufungszeichen, Text, slash, html
Semikolon, kset, ist gleich, iso, minus, acht, acht, fünf, neun, minus, eins, in Anführungszeichen
Größer, Funktion, Fenster, auf, to, in Klammern, url, in Klammern, pict, ist gleich, window
Punkt, oben, Klammer auf, url, in Anführungszeichen, toolbar, ist gleich, me, location…

 

 

Als 2002 der Song Waltz auf dem Album As If To Nothing von Craig Armstrong erschien, war mit den trocken skandierten Lyrics von Antye Greie-Fuchs der Hypertext als Ausgangspunkt und wichtige Voraussetzung für die Entwicklung einer Hyperkulturalität endgültig in der Popmusik angekommen. As we may think a (File) Structure for the Complex, the Changing and the Indeterminate könnte man in der Zusammenschau der Titel der zugrundeliegenden Texte für die Entwicklung hypertextueller Programmstrukturen (html) von Vannevar Bush und Ted Nelson die Vorlage sehen für ein Konzept, das als Kommunikationsstruktur die Verknotung und Vernetzung, die assoziativen Verbindungen in einem zunehmend globalisierten Weltgeschehen abzubilden versucht. Byung-Chul Han betont in seinem Büchlein über Hyperkulturalität, dass die Welt selber hypertextuell ist, nichts isoliert vom anderen existiert. Eine Welt als komplexes Netz, das bereits in der vedischen Vorstellung von Indra’s Netz als Abbild des Weltgeschehens Ausdruck fand, ein Konnektiom. Dieses wird z.B. auf der Website radio.garden (gibt es auch als App), wo es dem interessierten Hörer möglich ist jegliche weltweit bestehende Internetradiosender auf einer großen Karte anzuklicken und hineinzuhören, in sehr anschaulicher Weise deutlich. Eine wahrlich spannende Erkundungsempfehlung! Mit einem Klick öffnet sich ein Fenster in einer hyphenisierten Welt und zeigt ein buntes Potpourri an musikalischen Möglichkeiten. Ohne mich zu bewegen zu müssen, werde ich quasi zum Touristen in jeglicher zur Verfügung stehender kulturellen Schöpfung: alle Kulturen aus vielen unterschiedlichen Zeiten sind instantan zugänglich.

Dies verändert aber die Erfahrung von kulturell determinierten Elementen, wobei hier für uns v.a. die künstlerisch-musikalischen Ausdrucksformen im komplexen Kontext von Wissen, Glauben, Moralvorstellungen, Brauchtum und anderen Fähigkeiten, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaft prägen, bedeutsam seien sollen. Und natürlich auch die Subkulturen, die sich in ihren Werten, Vorstellungen und Ausdrucksformen abgrenzend auf die jeweilige vor Ort bestehende Gesellschaft beziehen und innerhalb ihrer ein Eigendasein führen. Subkulturen haben ein strenges Bezugssystem, das sie entweder verändern (progressiv) oder besondere Aspekte darin bewahren (regressiv) wollen. Sie sind lokal, kontext- und zeitgebunden. Doch durch die Vernetzung und ubiquitäre Verfügbarkeit z.B. von Musik, Kunst und anderen kulturell-kreativen Ereignissen werden die Subkulturen zu einer bedrohten Spezies, da die Hyperkultur in ihrer Grundstruktur nicht-lokal, kontexterweiternd und zeitübergreifend ist. Im Austausch zwischen den Kulturen und Subkulturen entwickelt sich etwas Neues, dialogisch in der Interkulturalität, durch Toleranz getragen in der Multikulturalität, wo Elemente unterschiedlichen Ursprungs nebeneinanderstehen und in der grenzüberschreitenden Dynamik im transkulturellen Transfer, wie Byung-Chul Han sehr detailreich beschreibt. Diese stufenweise Grenzauflösung führt bei der Entstehung hyperkultureller Muster zur Auflösung des Horizontes, der räumlichen und zeitlichen Begrenzung, so dass es

 

zu einem abstandslosen Nebeneinander unterschiedlicher kultureller Formen kommt. Klänge und Gerüche lösen sich von ihren ursprünglichen Orten und sind in einem grenzenlosen Hyperraum verfügbar. Sie erzeugen so eine intensive Vielfalt an Lebens- und Wahrnehmungsformen, die bestimmte historische, sozio-kulturelle, technische und mediale Prozesse oder Gegebenheiten voraussetzen. Das Hyper (Akkumulation, Vernetzung, Verdichtung) kennzeichnet das Wesen der Globalisierung (B-CH).

 

Aus dieser komplexen und ubiquitären Verfügbarkeit von Kulturgut, z.B. der Musik unterschiedlicher Traditionen und Ethnien, kann in einem ganz individuellen Auswahlprozess etwas ganz Eigenes, Neues entstehen. Hyperkulturell bedeutet hier also nicht über den Kulturen als solchen zu stehen, sondern eine kreative Synthese weit über die einzelnen, als Ausgangspunkt genommenen Kulturformen hinausgehend. Man könnte hier mit GPT-3, einer Open-AI, sagen dass

 

Hyperkulturalität auch als die Fähigkeit verstanden werden kann, zwischen verschiedenen Kulturen zu wechseln und sich in ihnen zu bewegen, ohne dass es zu einem Verlust der Identität oder Integration kommt.

 

In der Musik wurde dieser Prozess durch mehrere weitere Faktoren enorm begünstigt, bzw. überhaupt erst möglich gemacht:

 

  • Der Entwicklung von Samplern
  • Der Erfindung und bezahlbaren Verfügbarkeit von synthetischen Klangerzeugern und
  • Der gewaltigen Entwicklung der Möglichkeiten jedwelche Klänge im Studio nahezu beliebig zu bearbeiten.

 

Während Sampler noch den Transfer originären Klangmaterials ermöglichten, was z.B. sehr eindrucksvoll auf My Life in the Bush of Ghosts von Brian Eno und David Byrne zu hören ist, stellen Synthesizer und computerbasierte Studiotechnik neue, wenig spezifisch kulturell vorbelastete Produktionsmöglichkeiten dar, zumal sie selbst meist wesentliche Elemente hyperkultureller Musikformen stellen.

 

Wenn Byung-Chul Han herausarbeitet, dass Hyperkulturalität ein Phänomen der heutigen Zeit ist und nur unter den heute gegebenen Umständen entstehen konnte, so können wir uns fragen wann dies in der Musik seinen Ausdruck gefunden hat. Auch wenn ich bei genauerer Betrachtung gerade in der experimentellen Musik nach dem zweiten Weltkrieg und in der Entwicklung der Jazzmusik schon recht früh viele richtungsweisende Ansätze sehe, hat sich in ihrem Wesen hyperkulturelle Musik erst etwa um die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts entwickelt. Hier sind, und das ist eine sehr subjektive, persönliche und reduzierte Auswahl, vor allem die drei CoDoNa-Alben von Don Cherry, Colin Walcott und Nana Vasconcelos auf der Ebene akustischer Musik konstituierend gewesen und auf der Ebene elektroakustischer Musik besonders Jon Hassell, der sein Fourth World Music-Konzept explizit als hyperkulturell formulierte und kongenial realisierte.

 

 

     

 

 

Jon Hassell hatte seine musikalischen Wurzeln in der amerikanischen experimentellen Musikszene genauso wie durch sein Studium der elektronischen Musik bei Karlheinz Stockhausen und der klassisch nordindischen Musik bei Pandit Pran Nath, dessen Techniken er auf die Intonation seiner Trompete übertrug und schließlich wieder technisch verfremdete. Auf dieser Basis verband er afrikanische Drumpattern und javanische Gamelanfragmente, Wasserklänge und tropische Vogelstimmen, Gesänge der Aka-Pygmäen und Synthesizerdrones mit den strukturellen Mitteln europäischer Musiktraditionen und den subtilen repetitiven und selbstreferentiellen Strukturen elektronischer Produktionsmöglichkeiten, um so mit jedem Stück eine völlige neue Form struktureller Organisation und Erweiterung des vorbekannten musikalischen Vokabulars zu schaffen. In der Überwindung eurozentrischer Traditionen sah er darin einen Entwurf einer „Coffee-coloured“ klassischen Musik der Zukunft, in der die zugrundeliegenden Elemente bestenfalls nur noch fragmentarisch erkennbar sind.

 

 

   

 

 

Vor dem Hintergrund dieses hyperkulturellen Musikentwurfes wird eine Kritik an der Aneignung, der Assimilation des Fremden, bedeutungslos, da die unendliche Vielfalt kultureller Ausdrucksformen bereits innnerhalb dieser Hyperkultur beheimatet ist. Hyperkultur ist, wie Byung-Chul Han formuliert, eine Kultur intensiver Aneignung, in der das Eigene in der geglückten Aneignung eine stete Erneuerung erfährt, die durch die jeweilige Auswahl stark individuell geprägt ist.

Weiterhin sind für mich Peter Gabriel mit den Alben Melt und Security und vielen seiner Real World-Produktionen, Laurie Anderson mit Mister Heartbreak, Jean-Michel Jarre‘s Zoolook wichtige Alben einer sich in dieser Zeit konstituierenden musikalischen Hyperkultur.

Ein weiteres musikalisch recht heterogenes und hochspannendes Beispiel stellt das Londoner Musikerkollektiv Transglobal Underground dar, wo sich Musiker mit völlig unterschiedlichem Hintergrund trafen, um eine Tanzmusik jenseits stupider Technorhythmen und wie auch immer gearteter Weltmusik zu kreieren. Neben arabischen Einflüsse auch durch Natacha Atlas, gab es Impulse aus der klassisch indischen Musik, Reggae, afrikanischen Rhythmen und Balkanbeats, Bhangra, Eighties-Pop und Erfahrungen als DJ’s, die zu einem sehr vitalen, unvorhersehbaren Klangraum verschmolzen, der sich bis heute durch wechselnde Kollektivmitglieder und Konstellationen wandelt und weiterentwickelt.

 

 

     

 

 

Auch darf hier Hector Zazou nicht unerwähnt bleiben, der sich schon recht früh in seiner Musikerkarriere um kultur- und genreüberschreitende Musik intensiv bemüht hat. Der Höhepunkt seines Vermächtnisses ist für mich das letzte noch zu seinen Lebzeiten erschienene Album In The House Of Mirrors, wo er aus Sessions mit indischen und usbekischen Musikern, aber auch Nils Petter Molvaer und Bill Rieflin in der finalen Bearbeitung eine außerordentliche und einzigartige Kunstmusik schuf.

 

 

     

 

 

Eine besondere Stellung sollte später Björk einnehmen, die mit dem Homogenic ein programmatisches Album schuf, das damals weit über die Genregrenzen hinausreichte. Sie erarbeitete hier in vielen Kollaborationen eine ganz eigene Melange von den Erfahrungen der Naturgeräusche ihrer isländischen Heimat, klassischer und traditioneller Musik zu globalen Musikformen und technologisch geprägten Elementen, die sie oft scharf kontrastierte und eine futuristische, mit den Hörgewohnheiten bisheriger Musik brechende, intensive, unbequeme und zutiefst faszinierende Klangwelt schuf. Diesen Ansatz vertiefte sie in den folgenden Jahren sowohl in der Komplexität als auch Tiefe, besonders prägnant sichtbar bei den Alben Utopia und Fossora.

Bei der Durchsicht der Jahresbestenlisten 2022 wird auch schnell deutlich, wie viele Alben jenseits gängiger Genrezuordnungen und der verschiedenen Geschmackausrichtungen hier im Blog eine hyperkulturelle Signatur tragen und damit den Reichtum vieler Musiktraditionen in ein Futuristisches und Größeres einbringen und so auf ein neues Level heben. Auch ein wahllos ungezwungenes Durchklicken der Sender auf radio.garden zeigt, wie weit die Grenzen zwischen den Kulturen längst gefallen sind, unsere Hörgewohnheiten sich verändert haben und hyperkulturell geprägte Musikstücke bereits Eingang in den Mainstream gefunden haben.

 

 

 

 

Diese Zeilen sollen den Versuch darstellen die Ideen Byung-Chul Han’s zur Hyperkulturalität auf das weite Feld der Musik zu übertragen, das er weitgehend unerwähnt lässt und viel eher eine Anregung zu sein, eine Diskussion anzustoßen als auch nur ansatzweise ein Statement zu sein – eine einfache Gedankenskizze…

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16 Comments

  1. Olaf Westfeld:

    Da purzeln mir die Assoziationen durch den Kopf – schon jahrelang nicht mehr an Transglobal Unterground gedacht, da war ja etwas, vielleicht steht hier noch irgendwo eine CD rum. Remain In Light. Viele ECM Produtionen, wo unterschiedliche Musiker zusammen gebracht werden – Making Music oder Eventyr oder… Die Arbeitsweise von Massive Attack, vieles aus den 90er Jahren, als Sampler erschwinglich waren und man sein Studio im Rechner mitnehmen konnte: Hip Hip – da war der Sampler mehr Time Machine als Global Connector -, Drum‘n‘Bass, Trip Hop. Sachen die auf Music From Memory erschienen sind/wieder veröffentlicht wurden , vor allem Roberto Musci. Midori Takada, Mkwaju, Maira, Yasuaki Shimizu. Organic Music Societies. Demnächst erscheint ein lost tape von Don Cherry mit Jean Schwarz: https://www.hhv.de/shop/de/artikel/don-cherry-und-jean-schwarz-roundtrip-live-at-theatre-recamier-paris-1977-968924

  2. Uli Koch:

    Ja, Olaf, viele von Deinen Assoziationen hatte ich auch, besonders bezüglich Trip Hop, Massive Attack, Roberto Musci und den japanischen Musikern. Aber das wäre vielleicht schwerer lesbar geworden, wenn ich das alles auch noch reingepackt hätte….
    Danke auch für den Tipp zu dem lost Tape von Don Cherry!

  3. Henning Bolte:

    Kulturelle Wanderungen und Vermischungen waren doch schon immer Teil musikalischer Schöpfungen und Entwicklungen. Man könnte sagen, dass dies dem Medium Musik inhärent ist. Das war in Al Andalus so, in der Renaissance, im Barock. Man höre sich Tchaikovsky, Mahler oder Debussy an. David Toop nahm nicht umsonst Debussy als Ausgangspunkt in seinem Buch „Ocean of Sound“. Die Schöpfung mit vielen Einflüssen, unbewusst absorbiert oder bewusst eingesetzt, bleibt ein spezifischer kultureller Akt denke ich und schwebt nicht irgendwie autonom drüber.

  4. Lajla:

    Ja, was für eine Entdeckung: radio.garden. Ich habe sofort nachgesehen, ob ein Sender auf El Hierro existiert. Leider nicht.

    Als Paul Simon nach Südafrika ging und mit den dortigen Musikern auftrat, staunte ich über die selbstverständliche gemeinsame Spielfertigkeit. Ein New Yorker mit den Boyoy Boys? Da war Fröhlichkeit und Engagement der Dirigent.

    Ich bin nicht mit allem einverstanden, was Han über die Hyperkulturaltät schreibt. Er vergisst z. B. die kulturellen Codes, die einem in der Fremde so manchen Streich spielen können.

  5. Jochen:

    Byung-Chul Han ist wohl auch eher der klassischen Musik zugetan, spielt selbst Klavier.

  6. Henning Bolte:

    Gibt es überhaupt eine nichtvermischte Musik? Ich glaube NEIN. Es geht eher um Art, Grad und Qualität der Vermischung!

  7. Olaf Westfeld:

    Spannende Frage. Ich glaube, Musik und Kultur sind allgemein nicht ohne Einflüsse vorstellbar. Die Musik, die Uli beschreibt, scheint mir eine Mixtur aus verschiedenen unterschiedlichen Einflüssen zu sein; Debussy oder Tchaikovsky scheinen mir einzelne Stile genutzt zu haben, um das „klassische“ Vokabular zu erweitern. Ähnlich wie Picasso Einflüsse afrikanischer Kunst aufgenommen hat. Aber: da bewege ich mich auf dünnem Eis und habe nur wenig Ahnung.

  8. Henning Bolte:

    Genau, die Reinform gibt es nicht (auch wenn sie von Ideologen immer wieder beschworen wird). Es gäbe sie theoretisch nur, wenn alle Kulturen strikt sesshaft wären und Aussenkontakte strikt vermeiden würden (was dann extrem sektenhaft wäre).

    Gerade Musiker/Komponisten waren und sind (oftmals notgedrungen) sehr beweglich. Je gröBer die Welt und die Austauschmöglichkeiten werden, desto mehr sickert ein oder wird bewusst umarmt. Aber es wird immer bestimmt von eigenkulturell bestimmten Wahrnehmungs- weisen verarbeitet und es muss, musikalisch gesehen, Anknüpfungs- punkte geben.

  9. Uli Koch:

    Natürlich entsteht Neues in der Musik oft im Kontakt und der Auseinandersetzung mit dem Andersartigen, Fremden. Die Entwicklung, die wir aber gerade beobachten können und die ich zu beschreiben versuche stellt den Moment in der Weltgeschichte dar, in dem zum erstenmal überhaupt der prinzipielle Zugriff auf nahezu Alles möglich ist und das so etwas jenseits der bisherigen, noch durch Abgrenzung definierbaren, kulturellen Kontexte entstehen konnte. Das heißt nicht, dass die so entstandene Musik autonom über den Kulturen steht, sondern, dass sie eine eigene Kulturform darstellt, gemäß dem Prinzip der Übersummativität: Das Ganze ist etwas ANDERES als die Summe seiner Teile. Darin gibt es selbstverständlich Anknüpfungspunkte, die ja bei den von mir besprochenen Alben und Musikern jeweils ein völlig anderes Epizentrum haben und dennoch in ihrer viel weiter als je zuvor gefächerten Bandbreite einen nie dagewesenen wahrhaft hyperkulturellen Raum erschließen. Das beschreibt dann spezifisch eine hochgradig integrative Kultur und nicht nur, wie bisher eher transmissive Austauschprozesse.

  10. Jan Reetze:

    Völlige Zustimmung darin, dass es keine „unvermischte“ Kultur gibt, insbesondere in der Musik. Unbestreitbar, dass der Zugriff auf fast jede Art von Kulturprodukten heute jederzeit möglich ist. Diese Möglichkeiten hatten frühere Generationen nicht.

    Die Frage ist, gerade auch in den letzten ungefähr zwei Jahren, wie sich das mit dem zunehmend etablierten Verbot der „kulturellen Aneignung“ verträgt. Was ist mit Menschen los, die sich beim Anblick von Rastalocken auf europäischen Köpfen so „unwohl fühlen“, dass ein Konzert abgebrochen wird? Wie geht das zusammen mit den obengenannten Möglichkeiten, auf deren Nutzung kaum ein Kulturschaffender verzichten möchte?

    Und wie passt das zusammen mit anderen Phänomenen wie etwa den „Triggerwarnungen“, die man neuerdings nicht nur in Filmen oder zu Büchern findet, sondern sogar bereits in Bibliothekskatalogen?

    Spannende Fragen. However, danke für die Anregungen, sich die Platten wieder einmal anzuhören. Und auch um das Buch werde ich mich gelegentlich kümmern.

  11. ijb:

    @Jan (u.a.)

    Zum Thema „kulturelle Aneignung“ hat sich Jens Balzer viele lesenswerte Gedanken gemacht:

    https://www.republik.ch/2022/08/11/was-sie-wissen-sollten-wenn-kulturelle-aneignung-sie-aufregt

    Diese Sache mit den „Triggerwarnungen“ bei Romanen und Filmen (ganz speziell bei Werken aus der Vergangenheit) sehe ich auch als sehr befremdliche bis bedenkliche Entwicklung. Völlig falsche Richtung … und mir komplett unverständlich, warum man mit den Leuten, die sowas machen, nicht auf einer sachlichen Ebene darüber sprechen kann.

  12. Henning Bolte:

    Ja, Balzer lesen.

    Musik eignet sich nicht so gut zum Besitzen. Es gibt gefälschte Rembrandt, aber keine gefälschten „Imagine“s oder „Paint It Black“s – höchstens VERfälschungen davon.

    Es kommt immer auf die Art der Produktion und des Gebrauchs wie der Art der Rezeption an. Gespür, Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit spielen da eine Rolle!

    Als Beispiel habe ich ja die Passage über die Praxis von Don Cherry in dem neuen Buch von Karl Berger auf Mana gepostet. Don Cherry war ein Meister im Ergründen solcher Kleinode. In dem letzten Konzert von ihm, das ich gesehen habe, geschah etwas Ähnliches. Cherry spielte mit u.a. Peter Apfelbaum in Rotterdam. Zu dem Zeitpunkt konnte er schon kaum noch Trompete spielen und verwendete darum keyboard und dousn‘ gouni (eine malinesische Jägerlaute). Bei dem Konzert nistete sich bei mir eine melodische Phrase ein, die ich nicht mehr loswurde und die vielfache Möglichkeiten zur Expansion und Verwandlung bot. Glich sehr stark dem Shanti „My Bonnie Is Over The Ocean“.

    Walter Benjamins ‚Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit‘ hat in der Tat eine neue Stufe des Zugriffs, der Prozessierung und der Verbreitung erreicht. Daraus hat sich eine inzwischen allseits gängige Praxis der Beschreibung von Musik als „Mix von X, Y, Z“, was ebenso verzerrend wie dümmlich und anmaßend ist. Mit dieser Sprechweise wird alles, was mit dem Aneignungs- und Schöpfungsprozess einhergeht, getilgt.

  13. Henning Bolte:

    Eine Kultur kann man auffassen als ein. offenes, sich bewegendes System von Praktiken, Orientierungen, Überzeugungen und Werten. Sie existiert durch soziale Interaktionen von Menschen und künstlerische, magische und religiöse Projektionen in verschiedenen Medien in realen Handlungsfeldern.

    Eine HyperKultur könnte eine reinigende Wirkung haben und einen qualitativen Sprung herbeiführen. Persönlich bin ich skeptisch gegenüber solchen Hegeliaden. Man kann ja gegenwärtig, angespornt durch mächtige Mediendynamiken, auch eine zugespitzte artifizielle Re-Tribalisierung beobachten, die sich über allem wähnt und erheblichen gesellschaftlichen Horror verursacht, nicht nur in den USA.

  14. Uli Koch:

    Hyperkultur ist bei genauer Betrachtung einfach eine Idee, die einen gegenwärtig bedeutsamen Entwicklungsprozess beschreibt. Dieser ist seinem Wesen nach global und integrativ, weswegen das Konstrukt kultureller Aneignung hier seinen Sinn verliert, denn es ist nicht möglich etwas, das bereits integrierter Teil des Ausgangsmaterials ist, sich noch anzueignen, da man es a) bereits „besitzt“ und b) die Idee des Besitzens hier absurd erscheint, denn wer „besitzt“ schon einen Rhythmus? Wer eine Melodie?

    Doch diese Erweiterung des kulturellen Raums in eine Hyperkultur ruft verständlicherweise auch regressive Reaktionen hervor, zu denen die Re-Tribalisierung als Subkultur gehört, die meist mit einer Reduktion der in Anspruch genommenen Möglichkeiten einhergeht. Aus dieser Position wird eine abgrenzende und moralisierende Rechtfertigungsrhetorik subkulturstabilisierend, wie z.B. zum Thema „Aneignung“, wobei geflissentlich übersehen wird, dass eine kulturelle Aneignung (wenn dieser Begriff überhaupt Sinn macht, s.o.) dank der ubiquitären Verfügbarkeit von Ressourcen in der Regel in verschiedene, auch entgegengesetzte Richtungen gleichzeitig stattfindet.

  15. Jan Reetze:

    3 Mustaphas 3 nicht zu vergessen, „Heart of Uncle“. Ein wunderbares Album, schon aufgrund seines Fake-Faktors. Das Albanien-Märchen, das die Band damals inszenierte, ging rum in der Szene, alle haben es geglaubt. Einfach nur Engländer durften sie nicht sein.

    Danke für den Balzer-Tipp, in der Tat lesenswert. Er bringt einige Ordnung ins kulturelle Chaos und schreibt viel Richtiges, ich finde allerdings, dass er Äußerlichkeiten noch immer zu viel Gewicht beimisst. Die ewige Mär, dass die Weißen den Schwarzen alle möglichen Musiken gestohlen haben sollen, stimmt nur so halb, denn die weißen Komponisten wurden von den damaligen Musikverlegern kein Stück weniger abgezockt. Und auf der anderen Seite war Benny Goodman einfach ein verdammt guter Musiker, auch wenn er nicht schwarz war. Und auch Elvis ist wohl kaum mit der Idee losgezogen: Jetzt klau‘ ich den Schwarzen mal ihre Musik und werde erfolgreich damit. — Aber das wäre jetzt eine lange Debatte. Früher hätte ich gesagt: „I say it loud: I’m blonde and I’m proud!“, aber die Farbe hat sich inzwischen auch verloren.

  16. Michael Engelbrecht:

    Keine Blonden-Witze bitte, Jan!


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