Manafonistas

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2022 10 Nov

Neues vom Verrückten Pferd

von: Manafonistas Filed under: Blog | TB | Comments off

Auf der Vorderseite des Albums „World Record“ ist ein Foto von Neil Youngs Vater, dem Schriftsteller Scott Young, zu sehen, wie er in Anzug und Krawatte, den Regenmantel über dem Arm, die Straße entlang schreitet. Es könnten die späten 1950er Jahre sein, und er sieht aus wie ein Mann, der dort etwas zu tun hat. Man muss das Gesicht nicht erkennen, um zu wissen, wer er ist: Das Bild ist wie ein Museumsexponat beschriftet. Im Innenteil sind Neils Bruder Bob, seine Mutter Rassy und Neil selbst abgebildet – die erste Familie, die Young kannte, bis er 12 Jahre alt war und seine Eltern getrennte Wege gingen.

 
 

 
 

Der 50er-Jahre-Style des Covers hallt im Opener „Love Earth“ nach, einer Aufnahme, die so warm ist wie ein Ernteabend. Während Nils Lofgrens Lap Steel mit Youngs Klavier flirtet und die Rhythmusgruppe Billy Talbot und Ralph Molina das Pferd zum Schlendern bringen, erinnert die Melodie an einen der größten Hits aus Youngs Kindheit, „Sh-Boom (Life Could Be A Dream)“, den die Jungs von The Crew Cuts aus Toronto 1954 aufgenommen haben. Auch der Text scheint eine Referenz zu sein, denn Young unterläuft seine Skizze einer idyllischen Erinnerungslandschaft mit einem bittersüßen Seufzer: „We were living in a dream“.

Geht es auf diesem Album um seine Familie, seine Kindheit? Nun, nein. Nichts hier ist so unverhohlen autobiografisch wie „Don’t Be Denied“ von 1973 oder so direkt wie „Heading West“ auf dem letztjährigen Album Barn. Andererseits, ja. Wie immer stehen Umweltbelange im Vordergrund, aber hier kommen sie als Erinnerungen an die Welt, die Young damals kannte, zum Ausdruck, als ungeschönte Beschwörungen von blauem Himmel und klarem Wasser, die sich in „Love Earth“, „Overhead“ (einem 12-taktigen Speakeasy-Stomp, der auf Burt Lancaster und die Beatles verweist), „This Old Planet“ (die Melodie von „Human Highway“ wurde mit dem Sound von „After The Gold Rush“ bearbeitet, hallelujah) und dem schlichtweg wunderschönen „Walkin‘ On The Road“ wiederholen.

Gleichzeitig wandert er (ein weiteres wiederkehrendes Motiv; allein wandernd, gemeinsam marschierend) durch die Welt der Gegenwart – im Gefühl der sich entfaltenden ökologischen Katastrophe, des Krieges, der Pest in der Luft – und er ist offen über seinen Platz darin: dass jetzt mehr Weg hinter ihm liegt als vor ihm. „Ich bin so dankbar, dass ich all diese Jahre gelebt habe“, erklärt er in „I Walk With You“.

Damit das nicht zu nachdenklich und herbstlich klingt, sollte man erwähnen, dass es auch auf diesem Musterexemplar eines Spätwerks voller Rückblicke ein, zwei Kracher gibt, ein herausragendes Beispiel dafür, wie Crazy Horse es diesmal oft schaffen, wie Crazy Horse zu klingen, obwohl sie gar nicht wie Crazy Horse klingen.

Nach Colorado aus dem Jahr 2019, das die jüngste Besetzung der Band vorstellte, da Lofgren nach dem Rücktritt von Gitarrist „Poncho“ Sampedro zurückkehrte, und Barn ist dies das dritte Album, das Young mit Crazy Horse in Folge aufgenommen hat – das erste Mal, dass das überhaupt passiert. Barn fühlte sich wie eine Konsolidierung von Colorado an, als sich das Lineup in den gewohnten Horse-Groove einlebte. Aber mit World Record wirft Young die Dinge in die Luft.

Über weite Strecken des Albums verzichtet er auf die Gitarre und damit auf den klassischen Horse-Sound und setzt stattdessen auf die Tasteninstrumente, vor allem die Pumporgel. Wenn er bei „The World (Is In Trouble Now)“ fröhlich ein Riff aus Herbie Hancocks „Watermelon Man“ schmettert und den Refrain mit Unterschall brummt, ist das glorreiche Ergebnis eine Art schlampiger, betrunkener, organischer Funk, der bei „The Wonder Won’t Wait“ wieder auftaucht.

Dieser Song bringt das Thema dieses verdammt schnell entstandenen Albums auf den Punkt: den Moment nutzen, oder sich zumindest dessen bewusst sein. Der Produzent Rick Rubin fängt sorgfältig einen Live-Sound ein, ein spontanes First-Take-Gefühl, das von „Break The Chain“, einem der beiden wichtigsten Gitarrensongs des Albums, veranschaulicht wird, einem Crazy-Horse-Drescher in der Tradition von „Welfare Mothers“ und „Fuckin‘ Up“, mit zusätzlicher Post-Covid-Unruhe. Neil nennt es seinen „flirt with death“ in dem Video, das man sich überall anhören kann. Und der Song IST ein Drescher.

Das epische Schlussstück heisst „Chevrolet“: ein 15-minütiger Horse-Jam, der es in sich hat, komplett mit der massiven, zerrissenen Horse-Harmonie, und kein Song über ein Auto, sondern über verschiedene Phasen in Youngs Leben, über Wege, die er gegangen ist, über Menschen, mit denen er zusammen war, über Fehler, die er gemacht hat. Die Epochen verschwimmen und kollidieren in den langen Instrumentalpausen, wenn er sich auf die Suche nach der perfekten Melodie begibt, die gerade unerreichbar ist. Hier vergeht die Zeit nicht; sie brennt und schmilzt.

(Damien Love Uncut, January edition 2023)

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