Letzten Sonntagabend durften wir erleben, wie man das Thema Besessenheit und Exorzismus besser NICHT abhandelt. Den Fall Anneliese Michel aus Klingenberg am Main habe ich bereits erwähnt.
Eine erfreulich unaufgeregte Verfilmung dieses tragischen Falles, der auf alle Schockeffekte verzichtet, stammt von Hans Christian Schmid (D, 2006) mit einer furios aufspielenden Sandra Hüller. Der Exorzismus selbst wird nicht gezeigt, der Film versucht sensibel aber deutlich auszuloten, wie es zu dieser schweren Erkrankung einer jungen Frau kam und endet an dem Punkt, an dem dies alles gezeigt ist.
Ein junges Mädchen aus streng katholischem Elternhaus ist fanatisch religiös, leider auch mit Grand-mal-Epilepsie geschlagen und braucht Medikamente, die unter Umständen Psychosen auslösen können. Das freie Studentenleben bringt sie bereits in moralische Konflikte.
Der Film zeichnet das Bild einer schweren Ablösungskrise von einer bindenden Mutter, die Michaelas (der Filmname) Erkrankung nutzt, um das Kind zuhause zu behalten und dem, was man früher als ecclesiogene Neurose bezeichnete – schwere Aggressionshemmung, Autoritätshörigkeit, Schuld – und Versündigungsgefühle und am Ende ein messianisch anmutender Wahn, in dem Michaela / Anneliese mit ihrer Krankheit für andere büssen und sie erlösen will, sich schwere Verletzungen zufügt und schliesslich verhungert. Ein Arzt wurde nicht hinzugezogen.
Exorzismus wird immer noch häufig nach dem Rituale Romanum durchgeführt, muss vom Bischöflichen Ordinariat genehmigt werden. Der „Besessene“ muss vorher ärztlich und psychologisch untersucht werden. Kriterien für eine „echte“ Besessenheit ist u. a. das Reden in fremden Sprachen, die der Betroffene vorher nicht gelernt hat, Entwickeln ungewöhnlicher Körperkräfte, Angst vor geweihten Gegenständen etc. Der Exorzismus muss ärztlich überwacht werden.
Die Eltern von Anneliese sowie der exorzierende Priester wurden später zu je einem halben Jahr Haftstrafe auf Bewährung wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt.
Die Tonbandprotokolle sind im Netz veröffentlicht. Erstaunlich ist, dass auch im dissoziierten Zustand Anneliese den vertrauten Dialekt beibehielt: „Die Sau soll’s Bet’n aufhör’n!“ brüllte der Dämon den Priester an – oder wer immer damit noch gemeint war, der Film erweckt dazu Phantasien.
Der Analytiker Matthias Hirsch recherchierte zur Familiengeschichte; es erhob sich der Verdacht, dass die Mutter von Anneliese ein – dem vermeintlichen Vater untergeschobenes – Kind eines katholischen Priesters war; also die Frucht einer Todsünde. Nachdem dergleichen transgenerational an spätere Generationen weitergegeben wird, wie u. a. die Holocaustforschung beweist, musste Anneliese hier eine schwere Familienschuld sühnen. Das Menschenopfer ist ein essentieller Topos in der christlichen Religion, vielleicht sogar deren Ursprung, wie Freud in seiner Abhandlung über die Urhorde nachzuweisen versucht.
Somit gibt es zumindest einen zutreffenden Satz in der Bibel: Die Sünden der Väter rächen sich bis ins dritte und vierte Glied – oder so. Sünden natürlich in Gänsefüsschen.
In Originalaufnahmen der Familie Michel habe ich übrigens selten ein wütenderes und verbitterteres Gesicht gesehen als das von Annelieses Grossmutter, die geradezu hasserfüllt über das Verhalten des Mädchens spricht.
Früher war es in bayrischen Bauernfamilien üblich, dass der älteste Sohn den Hof übernahm, der zweite Sohn sollte dann „geistlich“ werden. Auch eine Form von Menschenopfer, von der Kastration mal gar nicht zu reden.
Und da wundert einen so Verschiedenes überhaupt nicht mehr.