Manafonistas

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Was macht einen guten Film aus? Wenn er mit dem Zuschauer spielt, auf der Klaviatur seiner Seele, wenn man hineingezogen wird in das Geschehen – und sei es auch irreal und absurd. Wenn er einen stimmigen Subtext hat und auf vielen Ebenen interpretierbar ist. Und wenn er ein Stück Offenheit und Ratlosigkeit zulässt, das einen noch lange beschäftigt, sich nicht zu einer „guten Gestalt“ im Sinne der Gestaltpsychologie zusammenfügen lässt, sondern sperrig und nicht bis ins Letzte verstehbar ist. Das muss man mögen. Manche Männer schätzen das übrigens an Frauen – und darum geht es hier auch: Eine schwer ergründbare Frau in einem Film, der sich nicht festlegt, so wie Carmen sich nicht auf einen einzigen Liebhaber festnageln liess und keiner wusste wie er gerade mit ihr dran war.

Habe gestern mit grosser Begeisterung wieder einmal „Carmen“ von Carlos Saura gesehen; ein Spielfilm mit den Tänzern Antonio Gades, Christina Hoyos und der Newcomerin Laura del Sol, einem wahren Sonnenaufgang, die sich hier als Schauspieler versuchen. Paco de Lucia hat eine Nebenrolle, ebenso die Sängerin Pepa Flores einen Cameo-Auftritt.

Der Choreograph Antonio will die Oper „Carmen“ als Flamenco – Ballett inszenieren, in einer der Schülerinnen einer Tanzschule, geleitet von seiner Freundin Christina findet Antonio die richtige Carmen, die dann auch noch so heisst, während alle anderen Figuren die Vornamen der jeweiligen Schauspieler behalten. Damit findet schon von Anfang an eine Fusion zwischen der Tanzschülerin und ihrem historischen Vorbild statt, davon lebt der Film. Zunächst geniesst der Zuschauer in voyeuristischer Weise hinreissende Tanzszenen, manche Gesichter erinnern an die Bilder von Goya, nicht nur schön, aber immer ausdrucksvoll bis hin zum Bizarren und Grotesken. Das Schicksal geht erstmal seine simplen Pfade, Antonio verliebt sich, Carmen tut was eine Carmen tun muss – sie wechselt die Männer nach ihrem Gutdünken und ist obendrein noch verheiratet, Antonio muss sie erst freikaufen. Der Plot folgt der Novelle von Meriméé, mit leichter Hand in die Achtziger placiert. Die Carmen der 80er muss im Gegensatz zu ihrem historischen Vorbild keine Aussenseiterin sein, es genügt, sie als selbstbewusste Frau in ihren beruflichen und persönlichen Zusammenhängen darzustellen – trotzdem entfaltet sich das historische Carmen-Narrativ mit anachronistischer Wucht. Während in der Novelle von Meriméé der Konflikt zwischen Aussenseitern und dem bürgerlichen Spanien im Zentrum steht, ist in der gleichnamigen Oper die „moralische Fragwürdigkeit“ das Thema und Carmens Verhängnis. Hier bricht der Film mit der historischen Vorlage – Carmen ist eine gesellschaftlich integrierte Frau, nur der verzweifelt Liebende nimmt daran Anstoss, zunehmend in den Sog der Geschichte sich verstrickend.

Antonio ist also unglücklich verliebt, erlebt Abweisung und Eifersucht nebst neuem Hoffnungschöpfen an Carmens langer Leine, in der klaustrophobischen Enge seines Tanzstudios. In seinen Phantasien erscheint sie ihm als die archetypisch-spanische Frau mit Fächer, Einsteckkamm und Mantilla – was er als Klischee verabscheut – die Realitätsgrenzen verwischen sich zusehends. Viele Szenen finden vor Spiegeln statt, als Metapher für die beiden Realitätsebenen, für das Mittel der Selbsterkenntnis, aber auch für das Tor aus dem das Andere heraustritt. Dann gerät der Zuschauer selbst in einen Strudel der Verwirrung: Eine Szene der Feindseligkeit und Rivalität zwischen Antonio und dem vermeintlichen Ehemann von Carmen entpuppt sich als Tanzszene, eine Probe mit einem Kollegen, der ihrem Mann ähnelt. Die Faktizität der Situation – die Eifersucht Antonios mit der untreuen Frau – vermischt sich zusehends mit dem Carmen-Narrativ, auch für den Zuschauer nicht mehr durchschaubar. Es wird anstrengend.

Damit sind wir inmitten von Antonios Gehirn, der die Realitätsschranke offenbar nicht mehr zu ziehen weiss. Bis zum Schluss: Antonio ertappt Carmen in der Garderobe des Pausenraums mit einem Nebenbuhler, später glaubt er ihre Hinwendung zum Darsteller des Escamillo zu bemerken – wobei unklar bleibt ob sie hier nicht einfach ihre Rolle spielt oder ihn ganz real im Visier hat; stellt sie zur Rede und ersticht sie. Carmen stirbt in Schönheit, ohne sichtbare Verletzung und Todeskampf. Die letzte Einstellung zeigt die unmittelbar danebensitzenden Studenten im Pausenraum in entspannter Unterhaltung, die nichts (noch nichts?) bemerkt haben und schwenkt auf das Fenster, hinter dem eine winterlich erstarrte Landschaft zu sehen ist – als ständiger Kontrapunkt zu dem überhitzten Geschehen im Tanzstudio immer wieder eingeblendet. Niemand holt die Polizei. War was? Alles nur ein Spiel? Oder doch ein Affektmord? Oder auch das nur die Probe für die Schlussszene? Es kommt keine Antwort mehr … nicht die beruhigende Auflösung mit der üblichen Einordnung in die bekannten Schemata. Wobei diese Carmen nun für uns auf ewig lebendig und tot gleichzeitig bleibt wie Schrödingers Katze. Kino bedient sich gern der Mechanismen der Quantenphysik und deren Topos der Superposition, die zwei Zustände in sich vereint ohne sich für einen zu entscheiden, so entsteht der Effekt des Unheimlichen. Auch Saura verzichtet darauf  die Superposition ins Eindeutige kollabieren zu lassen, es ist nicht einmal erkennbar ob das Messer Blutspuren aufweist. (Näheres in meinem post „Was hat das Unheimliche mit Quantenphysik zu tun?“). Oder – wie der Bayer sagen würde : Nix Gwiss woass ma ned!

 

 

This entry was posted on Montag, 23. Mai 2022 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

26 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Damals habe ich den Film gesehen, wahrscheinlicn erst im Fernsehen, weil ich nicht sonderlich heiss war auf die Musik. Aus Gründen, die man bestimmt nicht analytisch aufdröseln muss, mochte ich Flamenco nie. Sowenig wie später Rap.

    Es sei denn, der Kontext stimmt – und dieses Spiel zwischen Fantasie und Realität übte einen enormen Sog aus. Da hätte auch Oper gesungen werden können (wie in dem wunderbaren DIVA-Film). Da packte auch die Musik, trieb das Spiel der Empfindungen und Einbildungen auf eigene Weise voran.

  2. Ursula Mayr:

    Freut mich dass er Dir auch gefällt. Ich mochte Flamenco nie… zuviel Theatralik, zuviel Gestampfe, zuviel Testosteron und dazu die ständig finsteren Mienen als wollten sie sich alle gleich gegenseitig umbringen. Das hat mehr von Stierkampf als von Verführung. Trotzdem habe ich mich einmal verstiegen einen Kurs an der Volkshochschule zu belegen. Zeitpunkt : 1. Advent, leise rieselnder Schnee. Ort : Der Keller eines Altersheimes in München. Die Kursleiterin hatte keine Lust auf Flamenco, wollte uns lieber Sevillanas beibringen. Die Schrittfolgen waren so kompliziert dass einer nach dem anderen aufgab und alle am Ende ratlos auf dem Turnbänkchen sassen, was die Senora überhaupt nicht kratzte. Wenigstens habe ich mir hinterher zur Entschädigung noch eine Paella gegönnt.

  3. Anonymous:

    Ich fand den Film ein Meisterwerk, besonders gut fand ich die bekannten Tänzer und Paco de Lucia einmal als Schauspieler und Menschen zu erleben. A. Gades wirkte etwas hölzern, Ch. Hoyos aber schauspielerisch brillant, vor allem ihrer Darstellung der kaum verborgenen Rivalität und Feindseligkeit zu Carmen. Schade dass man von Laura del Sol in späteren Zeiten nicht mehr viel zu sehen bekam.

  4. Michael Engelbrecht:

    Komplizierte Schrittfolgen sind doof. Es geht halt nichts über free form dancing und Klammerblues😂. Damit sind neben der Tanzschule, bei der ich es nicht mal zum Abschlussball und auch nicht ins Bett von Marlies Durch Den Wald (die hiess wirklich so) geschafft habe, 95 % meiner Tanzdarbietungen notiert:)

  5. Michael Engelbrecht:

    Damals galt es ja als uncool, die Bee Gees gut zu finden und die Schmalzlocke und Olivia brauchte ich auch nicht. Ich glaube, der Film war nur ein begrenzt interessante Geschicjte (alles aus ferner blasser Erinnerung), ABER, keine Frage, was joie de vivre angeht, Endorphine und Co: die Songs von den Bee Gees zu STAURDAY NIGHT FEVER (so hiess doch der Travolta Blockbuster!?) war toll, und vielleicht würde mir der Film allein wegen der Songs und der Patina einer lang vergangener Zeit gut gefallen, wenn ich ihn mal wieder sehen sollte.

    Und ich habe noch einen Film im Angebot, mit tollem Soundtrack von Gato Barbieri, und einem in meinen Augen ansonsten grandios überschätzen Film: Last Tango In Paris – die sehnsuchtsvoll und endlos variierte Tango-Melodie des argentinischen Saxofonisten (ohne Tanzgebalze) war das einzige Gefühlsechte in diesem Film der Komplett-Verpeilten. Die Nummer mit der Butter – grosser Tabubruch, haha. Der Film war so erotisch wie ein Lutherchor.

    Titel korrigiert, klar Saturday Night Fever (kam mir auch irgendwie unpassend vor:) – ich schreibe automatiquement…

  6. Norbert Ennen:

    Saturday Night Fever hieß der Travolta Blockbuster. Der andere Blockbuster war der mit Patrick Swayzey und Demi Moore.

  7. Ursula Mayr:

    Patrick Swayze und Jennifer Grey in den 80ern!
    Anonymous: Das Hölzerne an Antonio Gades verlangte die Rolle. Ein fanatischer besitzergreifender Kerl…..

  8. Littlejack:

    Ohne die Butter würde heute kein Mensch mehr von diesem Film reden …

  9. Arthur:

    Das open end hat mich seinerzeit gestört. Ich fand es irgendwie symbolisch – wen oder was hat Antonio getötet? Das was sich nicht seinem Willen beugt, nicht nach seiner Anweisung tanzt?

  10. Ursula Mayr:

    Dann wäre ihm die erotische Choreographie wohl missglückt..

  11. Michael Engelbrecht:

    Haha, im Moment habe ich richtig Lust, Saturday Night Fever wieder zu aehen, werde mir ne DVD kommen lassen. Und der Dipm läuft sicher nichf unter dee Überschrift deines Textes:

    Der Einbruch des Archaischen in die Ästehtik.

    Vielleicht verzaubert mich ja Olivian Newton-John doch noch mal mit ein paar Jahrzehnten Verpätung😅

    Aber stattdessen jetzt erst mal in aller Frühe zum Physiotherapeuten meines Vertrauens:)

  12. Michael Engelbrecht:

    Mehr in die Welt von Carmen würde, obsessionstechnisch, L‘ENFER gehören:

    Schaut mal hier, der Trailer…

    https://www.youtube.com/watch?v=zIk7T61lC28

  13. Ursula Mayr:

    Gottlob nicht die Fassung mit Romy Schneider!

  14. Ursula Mayr:

    Olivia Newton John dürfte nicht Deine Kragenweite sein . Keine Ausstrahlung.

  15. Ursula Mayr:

    Versuchs lieber mit DIRTY DANCING, sehr professionell gemacht: Handlung im 50er- Stil erzählt aus den Sechzigern, gedreht in den 80ern. Aber: Cynthia Rhodes !!

  16. Michael Engelbrecht:

    Wenn es um Ausstrahlung geht, dann wohl lieber Jamie Lee Curtis in alten John Carpenter-Schockern. Da ist die Musik auch gut!

  17. Ursula Mayr:

    Die ist jetzt nicht so meine Kragenweite …

  18. Olaf Westfeld:

    Ich habe diesen Film mit 12 oder 13 im Kino gesehen und war völlig verwirrt. Die Unzuverlässigkeit in der Erzählung – dem Verschwimmen von Wahrnehmung und Realität – konnte ich nicht verstehen, zudem ist das eine eher erwachsene Geschichte – das ganze war dann ein einziges Rätsel. Die Bilder sind noch im Kopf.
    Saturday Night Fever habe ich seltsamerweise nie gesehen, den Soundtrack finde ich großartig!

  19. Ursula Mayr:

    Ja, für Kinder ist das nix…

  20. Olaf Westfeld:

    … ja, das war verstörend und auch beim Wiedersehen vor zehn Jahren oder so war mir sofort unheimlich. Toller Film, trotzdem.

  21. Jan Reetze:

    Ich muss gestehen, dass ich immer, wenn ich die Bee-Gees-Nummern aus „Saturday Night Fever“ höre, an die Mainzelmännchen denken muss. Hat aber auch seinen Charme.

  22. Ursula Mayr:

    Olaf: Was fandest Du unheimlich?

  23. Michael Engelbrecht:

    Weil Olaf schon das Licht ausgemacht hat, er muss früh raus, kann ich dir das tatsächlich beantworten, und wenn ich mich täusche, dann wäre ich überrascht. O. sah den den Film nach langer Zeit wieder, und ihm war SOFORT unheimlich. Er war beim ersten Sehen als Kind VÖLLIG VERWIRRT.

    Also, nennen wirs hohe Affektladung des Atmosphärischen, nicht aufzuhängen an einer Szene oder einem Handlungselement. Mir ergings so beim ersten Wiedersehen von WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN. Maybe i‘m wrong of course, dear U:)

    Ich sehe gerade zwar eine Serie, aber das gehts auch arg traumatisch zu, die erste Folge mit der wunderbaren Clare Danes ais HOMELAND hat mich gepackt.

    stream: apple + .

  24. Olaf Westfeld:

    Ertappt und durchschaut (außer, dass ich noch wach bin ;-) ).

  25. Olaf Westfeld:

    Völlig anderes Thema… hat hier zufällig jemand Erfahrung mit der Serie Slow Horses?
    http://dasfilter.com/film/serienkritik-slow-horses-appletv-kaputte-agent-innen-in-ihrem-daily-business

  26. Michael Engelbrecht:

    Kleiner Schlenk in die Serienwelt, Olaf :) … also:

    SLOW HORSES, da habe ich den Pilotfolgentest gemacht, sehr, sehr vielversprechend. Es basiert auf dem ersten Roman von Mick Herron, der bei Diogenes in Übersetzung vorliegt. Der zweite zumindest auch. Wollte ich mal im Original lesen, ging nicht, bei dem Slang muss man native speaker sein.

    SLOW HORSES wird gestreamt auf apple+ – die haben einige gute Originals produziert (neben TEH‘RAN zum Beispiel auch THE ESSEX SERPENT, mit der grossartigen Claire Danes).

    APPLE PLUS kann man kostenlos oder sehr preiswert einen Monat anschauen, dann für 4,95 oder so, ich bin da draufgelandet wegen der beeindruckenden Doku THE VELVET UNDERGROUND. Siehe Kolumne mit Richard Williams.


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