Manafonistas

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2022 24 Mrz

Mit Reckwitz Messer wetzen

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | 2 Comments

 

Vor etwa sechs Wochen hatte ich mir in der Stadtbibliothek ein Buch von Andreas Reckwitz vormerken lassen, das nun zur Abholung bereit stand. Lajla erwähnte es einmal hier auf dem Blog, so wurde ich darauf aufmerksam: „Die Gesellschaft der Singularitäten – zum Strukturwandel der Moderne“, erschienen bei Suhrkamp. Ich zögerte zunächst, es abzuholen, da sich meiner Vermutung nach durch den Kriegsbeginn etwas grundlegend verändert hatte: wen interessierten denn jetzt noch die Befindlichkeiten kulturell überzüchteter Individuen, wie sie in der langen Friedensblase meiner Zeit entstehen konnten? Aber man soll ja nicht nur dem Frieden eine Chance geben, wie einst John und Yoko sangen, sondern auch einem Autor, von dem man schon viel Gutes hörte und auf YouTube gar sah. Seit ich Bücher nur noch sehr selten konzentriert von vorne bis hinten durchlese, meistens, wie eine Freundin neulich bemerkte, auf der dritten Seite schon vergessen habe, was auf der ersten Seite stand, hat sich eine neue Technik durchgesetzt: ich stöbere im Buch herum, schlage blindlings eine Seite auf, wie ein Adler auf die Zeilen stürzend, um Beute zu machen. Sätze und Gedanken, die zum Weiterdenken Anlass geben oder längst Geahntes explizieren, wie ein Messerwetzer wirken für den Geist. Beispiel: der Autor bezeichnet Internet und Computer als eine „Kulturmaschine“, was mich gleich an die Wunschmaschine von Gilles Deleuze erinnerte, die ich allerdings nie verstand, wie so Vieles im sprachverliebten Raum französischer Philosophen. Ganz anders Andreas Reckwitz: konkret und nachvollziehbar statt im Ungefähren herumzuraunen. Er fragt sich beispielsweise, inwieweit die Kunst die Vormachtstellung des Besonderen verloren habe angesichts der Schwemme individualistischer und idiosynkratischer Singularitäten. Und alles sei doch heute Kunst, jedes banale Gebrauchsding, jede Colaflasche. In diesem Sinne ist dies vorerst keine Rezension, sondern bestenfalls eine recht flapsig skizzierte Prezension: Ausdruck reiner Freude über einen Beutezug.

 

This entry was posted on Donnerstag, 24. März 2022 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

2 Comments

  1. Chrissie:

    Geht mir ähnlich!

    Würde wahnsinnig gerne gute Krimis lesen aber das Gewimmel von Leuten, die zu Anfang kapitelweise in die Handlung eingeführt werden und irgendwie in die Handlung verstrickt sind kann ich nicht mehr im Kopf behalten und ein Glossar gibt’s nicht. Da geht den Autoren eine grosse Zielgruppe verloren. Oder könnte es sein dass wir alt werden? Nee … oder?

  2. Lajla:

    Ich habe kaum Chancen, mit meinem Lifestyle aufzufallen. Gestern betrachtete ich hier in Neapel ein Gemälde von Caravaggio „Die Leiden der Hl Ursula.“ Keine Besucher in dem kleinen Palast und auch keine Argusaugen Wärter hätten mich davon abhalten können, mich mit einem offenen Glas Prosecco bei dem Künstler für das großartig gemalte Licht zu bedanken. Und zu fragen: glaubst du, dass jeder ein Künstler ist?
    Beuys hat mit der sozialen Plastik die Singularität eingeführt. Caravaggio wird jetzt aufgrund seiner Kriminalität gehyped. Der Kunstwert steigt.


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