Manafonistas

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2022 21 Jan

Ein Morgen im Pelourinho

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | Tags:  | Comments off

 

An diesem Vormittag war es in der Altstadt von Salvador im brasilianischen Bundesstaat Bahia besonders heiss. Der Karneval war vorbei, trotzdem Trubel in der Cidade Alta, dem afrikanisch geprägten Stadtteil, in dem es vor Zeiten noch Sklavenhandel gab. Die Sonne brannte und die Luft war seltsam stickig schon am Morgen. Es dröhnten Ghettoblaster, ja sie krähten geradezu schrill aus nahezu jedem Fenster der alten barocken Häuserfassaden. An einer Strassenecke tanzten Capoeira-Tänzer Flick-Flacks, begleitet von Congas, Bongos und Berimbau. Bewundernswert durchtrainierte Körper, ehrfürchtiges Staunen. Peter hatte auf dem Randstein des grossen Brunnens Platz genommen, inmitten des historischen Zentrumplatzes, um erst einmal Orientierung zu gewinnen, so früh am Tag. Eine junge Prostituierte setzte sich zu ihm, er kannte sie vom Sehen, sie wohnte unweit seines Hotels am Praça da Sé. Die beiden beobachteten das Treiben ringsum und plauderten, soweit sein holpriges Portugiesisch es zuliess, begleitet vom Plätschern der Fontäne des Brunnens. Er zog es dann aber vor, der verlockenden Einladung dieser hübschen Mulattin nicht zu folgen, mit auf ihr Zimmer zu kommen. Am Ende ohne Hose dastehen und schlimmer noch: auch ohne Schecks und Passport? Das erste Mal auf einem anderen Kontinent, wollte er sich lieber nicht gleich zum Idioten machen. Ausserdem war da seine Freundin Monica, auch wenn es gerade kriselte. So schlenderte er ein wenig ziellos weiter. Vielleicht links hinunter nun, den bekannten Weg, dann mit dem Fahrstuhl herab zum Mercado Modelo? Direkt vor vor ihm diese prächtige Kathedrale, die Tür der Kirche stand offen, der Innenraum lockte mit Stille und Kühle. Eine kleine Gemeinde hatte sich zur Andacht versammelt, die vorderen Plätze waren gefüllt. Peter setzte sich behutsam in die Bank dahinter, nahm kontemplierend teil. Nach dem Gottesdienst erhob sich die Dutzendschar der Einheimischen, die Reihe vor ihm drehte sich geschlossen zu ihm um, nacheinander reichte man ihm freundlich die Hand. Voller Erstaunen fühlte er sich angenehm geerdet und gar nicht wie ein Tourist aus Europa: man hiess ihn hier auf wohltuende Weise willkommen. Am gastfreundlichsten waren jene, die wenig hatten, das lernte er auf dieser Reise immer wieder kennen. Und wo man am wenigsten „ich“ war, dort kam man oft unverhofft zu sich. Er trat vor die Kirchentür, blinzelte in die Sonne, eine Brise wehte vom Meer her. Der Tag hatte eine frische Färbung bekommen.

 

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