Niemals habe ich solche Menge an Gedichtbänden gelesen wie in meinen Studentenjahren. Es waren mindestens so viele wie die stolze Zahl der Thriller und Spionageromane von Eric Ambler und Partricia Highsmith, deren schwarzgelbe Buchrücken wohl einen knappen Meter auf meinem Bücherbord einnahmen. Meist lagen diese schmalen Werke, die ich vorzugsweise morgens im Café oder abends vor dem Einschlafen las, vor dem Plattenspieler auf dem Boden, hautnah an den Songalben von Eno oder frischen ECM-Lieferungen aus der Gleichmannstrasse 10. Da, wo sich heute BluRays und Dvds tummeln. In den Jahren von 1975 bis 1982 habe ich alles von Jürgen Becker gelesen, was ich in die Hände bekam, auch seine ganz frühen Bücher, und er wurde zu meinem Lieblingsdichter. Seltsam schüchtern war ich, als – Vorsicht, Repertoirestory! – er mir einmal im Fahrstuhl des Deutschlandfunks begegnete, in dem er lange als Redakteur arbeitete. Eher von draufgängerischer Art, war mir diese Anwandlung fast fremd, aber ich konnte sie mir hinterher gut erklären: meine Zeit mit seinen Gedichten stammte aus einer fast entrückten Vergangenheit, und was sollte ich ihm in aller Enge eine kleine Anekdote der Begeisterung auftischen?! In jenen Jahren meiner Lyriklust verbrachte ich auch etliche Abende mit Friederike Mayröcker, die nun in hohem Alter den Planeten gewechselt hat. Am liebsten schrieb sie morgens, so lange die Träume nachwirkten, wie Meike Fessmann heute in ihrem feinen Nachruf in der SZ anmerkt, und ich bin damals so gerne in den Sog ihrer Gedichte geraten. Sie war mit Ernst Jandl verbandelt, und es brach ihr das Herz, als er so früh starb. An einen stärkeren Text über Abwesenheit als „Und ich schüttelte einen Liebling“ kann ich mich nicht erinnern. Das Lesen von Gedichtbänden ist eine Art zu meditieren – die Tänze und Wirbel ihrer Sprache, ihres Sounds, haben mich oft an andere Orte transportiert. Und irgendwann, als die Erforschung der Träume mich mehr und mehr fesselte, wurde mir klar, wie nah die Deutung von Gedichten und die Deutung von Träumen beieinander liegen. Ich kann Menschen leicht beibringen, sich an ihre Träume zu erinnern. Gelingt mir das in einer Einzeltherapie, im übertragenen Sinn, ist die Lösung der seelischen Blockaden auf einem guten Weg. Beim Schreiben von Gedichten, und in der Therapie, geht es darum, jede Menge Gerümpel aus dem Weg zu räumen.