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2020 29 Okt

„You’ll never walk alone“ – Splitter aus Alltagskulturen (1)

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | 8 Comments

 

 

Aliens in Suffolk

Als Brian ein Kind war, gab es eine amerikanische Garnison in Suffolk, und er hörte im Radio immer wieder Gesänge, die ihm wie von einem anderen Planeten erschienen, und es war Doo-Wop.

 

Der kleine Hund

Elisabeth Edl arbeitete über einen Zeitraum von acht Jahren an einer neuen Übersetzung von Flauberts „L‘éducation sentimentale“, unterbrochen nur vom ganz normalen Leben, was immer das ist, und kleineren Übersetzungsarbeiten. Danach nahm sie sich einen kleinen Modiano vor, und einen Simenon. Sie erzählt von Simenons Einfluss auf Modiano, und dass nun wieder viele stöhnen, dass letzterer immer die gleiche Geschichte erzähle. „Bei mir ist es der gegenteilige Effekt“, sagt die Übersetzerin aus Schwabing, „ach, da ist ja wieder der kleine Hund.“

 

Radebrechendes Englisch

Als ich die neue Arbeit von Dino Saluzzi hörte, ein reines Soloalbum mit dem Bandoneon, fiel mir ein, wie sehr ich in jenes Album vernarrt war, auf dem ich ihn das erste Mal erlebte, mehr im Hintergrund, ohne zu ahnen, dass er mir noch viel öfter begegnen würde, einmal auch bei einem Interview in einem Kölner Hotel. Mit radebrechendem Englisch, aber ab und zu wurden seine Hände so gesprächig,  als hielte er ein imaginäres Akkordeon in Händen. Gato Barbieris „Latin America, Chapter One“ war ein Album mit  dem geschätzten Doppelklapp-Cover aus dem Hause Impulse Records.

 

Schön altmodisch

Als ich in Ingos Text von dem Berliner Komparsen-Aufruf für „The Lady‘s Gambit“ las, war das fast wie eine Entzauberung: ach, das ist ja alles gar nicht wirklich passiert! Zum wahren Flow gehört es, dass man unmerklich auf die andere Seite der Leinwand wechselt.

 

Magie aus der Blechdose

Beim Spiel des BVB gegen Zenit Petersburg wartete ich vergeblich auf grosse Kunst, trotz der Anwesenheit etlicher Ballartisten. Das Spiel blieb schwerfällig, und letztlich wurde es ein Arbeitssieg ohne jede ästhetischen Reiz. In einem leeren Rund, das für einen einzigen magischen melancholischen Moment sorgte: als zu Beginn die Hymne „You‘ll never walk alone“ aus der Konserve erschall, blechern, höchstens halbwegs tröstend.

 

Lieblingsplatten

Und jetzt, hier, als kostenloser Service für das hoffentlich gute Überstehen des zweiten Lockdowns mit den Mitteln des Jazz, eine gute Handvoll Klangkünstler, sechs  Meilensteine von Impulse Records (Schallplatten, die mich seit Jahrzehnten begleiten): John Coltrane: A Love Supreme. Marion Brown: Geechee Recollections. Alice Coltrane: Journey in Satchidananda. Pharoah Sanders: Tauhid. Charles Mingus: Mingus Mingus Mingus! Und, s.o., Gatos Hommage an seine Heimat. (aus dem persönlichen Massnahmenkatalog zur Steigerung der Resilienz)

 

Die spannende Rosamunde

Normalerweise fliege ich durch englische Literatur, ausser, wenn die Sprache zu speziell ist, oder manche Details so reichhaltig, dass ich sie nicht aus dem Kontext erschliessen will. Darum warte ich sehnsüchtig (das ist ein bisschen übertrieben), besser, geduldig,  auf die deutsche und hoffentlich gute Übersetzung des jüngsten Romans von Rosamund Lupton „Three Hours“. Jedem lesehungrigen Freund von verdammt gut geschriebenen, sprich, literarischen, Thrillern empfehle ich ihren vorletzten Roman „Lautlose Nacht“.

 

Der Zeitreisende aus Pittsburgh

In schnörkellosem und sinnlich ansprechendem Englisch entführt uns Jan Reetze in seinem neuen Buch „Times & Sounds – Germany‘s Journey from Jazz and Pop to Krautrock and Beyond“ durch Musikwelten der alten Bundesrepublik. Und allein beim Stöbern durch die Seiten hakt sich die Aufmerksamkeit ein ums andere Mal fest: das Buch scheint wirklich alle Qualitäten eines sachlich fundierten „Schmökers“ zu besitzen! Was für eine „Verschiebung“ der Perspektive es wohl mit sich bringt, der eigenen alten Lebenswelt in englischer Sprache zu begegnen?!

 

Geologie

Zum Ende noch einmal Eno. Als kleiner Junge tauchte er gern in den „National Geographic“ ein, dessen Ausgaben er ganz gern nach Bildern unbekleideter Frauen durchkämmte – aber er fand da auch zu seinem ersten Hobby, der Geologie: „Ich kannte keinen anderen, der sich dafür interessierte. Also packte ich mir ein paar Brote ein und radelte alleine an Orte, von denen ich gehört hatte. Meistens waren das Strände. Dort verbrachte ich ganze Tage damit, mir Steine anzuschauen. Ich erinnere mich daran sehr klar als an eine sehr glückliche und transzendente Zeit. Jenseits des Denkens, tatsächlich.“ Diese Erinnerung öffnet eine dieser hauchdünnen Linien, die Kindheit und Künstlerleben verbinden, man sehe sich nur das Cover von „On Land“ an, oder rufe sich den einen Titel ins Gedächtnis – „Dunwich Beach, Autumn 1960“.

 

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8 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    https://halvmall.com/times-sounds/

  2. Hartmut Geerken:

    lieber michael engelbrecht,

    schön von ihnen zu hören, – dinge aus frühen jahren! sie haben recht, die geechee recollections sind auch für mich ein meilenstein, viel zu wenig ins bewusstsein der jazzhörerschaft eingedrungen. ich mag die lp wegen des mutigen vorandrängens kreativer musik zu jener zeit & nicht nur, weil viele instrumente auf der lp zu hören sind, die ich marion nach usa geschickt hatte, als ich in den 60er jahren in kairo lebte.

    wir waren in intensivem brieflichen kontakt, & von ihm bekam ich auch ein sehr langes 4-spur-tonband mit damals fast nicht erreichbaren lps von sun ra, die marion von einem freund ausgeliehen hatte. marion & ich planten eine musikfassung von büchners woyzeck, aber durch meine versetzung nach kabul (ich war damals beim goethe-institut) blieb es beim plan. sehr schade. ein wunderbarer bescheidener mensch…

    ich grüsse einen der seltenen leser meines obduktionsprotokolls!

  3. Michael Engelbrecht:

    Elisabeth Edl scheint ein Faible für Hunde zu haben. Der Simenon, der jüngst, von ihr neu übersetzt, erschien war wohl Simenons Roman „Der gelbe Hund“. Witzigerweise das erste Buch, das ich von dem Erfinder von Maigret las, als Teenager.

  4. M. Waldner:

    On Land: was für eine interessante Kindheitsgeschichte! Und überhaupt, vielen Dank für diese vielen Gedankensplitter: sehr lebendiger Stoff.

  5. Lajla:

    Danke Michael für das schöne Potpourri. Beim ersten Lockdown erinnerte ich an „Decamerone“ und bat um Geschichten, die das Leben erzählt. Schreiben wir weiter dagegen an.

  6. Michael Engelbrecht:

    So machen wir es, Lajla. Hoffe, wir sehen uns in der Weihnachtsmarktfreien Zeit wieder. Glühwein kann ich gut selber herstellen, und ich bringe Joni mit. Und sie ihre Gitarre. Und ich den Baumkuchen.

    Ich dachte beim ersten Lockdown an Camus‘ Die Pest, Lex Barker und Mario Adorf, auch das eine Story, irgendwo vergraben in den Tiefen des Blogs.

  7. Olaf Westfeld:

    Beinahe hätte ich mit Schülern zu dieser Zeit Camus‘ Belagerungszustand eingeübt (ungefähr die Theaterversion von Die Pest), es ist dann ein anderer Vorschlag geworden, Corpus Delicti von Juli Zeh, passt gerade auch ganz gut. Mal sehen, was da überhaupt möglich ist, Aufführung wäre in drei Wochen, Anfang nächster Woche wissen wir hoffentlich, was wir wann machen dürfen – bzw. ob wir überhaupt etwas auf die Bühne bringen dürfen. Hoffe momentan wenigstens darauf, den Eltern etwas zeigen zu dürfen – mal sehen.
    Ja, ein schöner Strauß, der Text – danke!

  8. Martina Weber:

    Ich hatte gleich den letzten Track von Brian Enos Album „On Land“ aufgelegt, und mir vorgestellt, wie der 12-jährige Brian am Strand herumschlendert und mal einen Stein aufhebt, in der Hand wiegt, und in die Hosentasche steckt. „Go outside. Shut the door,“ wäre hier vielleicht die passende Oblique Strategy. Ich habe in dem Alter auch Steine gesammelt, ich hatte einmal auf dem Blog von den Anfängen erzählt. Ich mag es, im Raum ein paar Steine liegen zu haben. Ein geschliffener Bergkristall, ein Block Rosenquarz, ein Obsidian. Und einige Steine von der Ostsee, schwer und unheimlich eines, als wäre es ein Gesicht.


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