Manafonistas

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2020 20 Sep

Septemberlicht

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | 1 Comment

 

Im Wartezimmer der kieferchirurgischen Praxis lag die heissbegehrte Ware wohlfeil ausgestellt: der Patient nahm eine jener Zeitschriften zur Hand, die er sonst selten zur Ansicht bekam und wenn, dann nur zuhause online (umsonst & drinnen). Es fand sich schnell ein interessanter Artikel, um die Wartezeit zu überbrücken: von Bas Kast, jenem Journalisten, dem es gelungen war, mittels ausgiebiger Recherche einen „Ernährungskompass“ zu erstellen, den man wohl in der Kategorie „Mega-Bestseller“ verbuchen kann. Mittlerweile zu einem Papst für gesundes Essen avanciert, beklagte der Autor aber, dass er sich in dieser Rolle unwohl fühle: erstens sei er noch nicht so alt und zum Zweiten auch kein professionell legitimierter Berater dieses Fachgebiets. Es entspräche auch nicht seinem Bild von sich selbst. Das brachte ihn aber auf ein anderes Thema, nämlich die Frage, wer wir eigentlich sind. Darüber schrieb er dann einen Roman. Der Patient fand das insofern interessant, weil er festgestellt hatte, dass sich im Laufe der Jahre Identitäts-Schwerpunkte verlagern und Vieles von Früher später obsolet erscheine. Weitergehend seine These, dass man selbst zu den Neurosen, vergangenen Verhangenheiten und skurrilen Leidenschaften Abstand gewinnen könne. Praktische Dinge gewännen zunehmend an Gewicht. Der eigene Körper verfiele zudem zunehmend in die Rolle eines schwer erziehbaren Störenfrieds, wie der Lümmel in der letzten Reihe, den es zu händeln gelte. Auch im Zuge von Corona wurde wieder klar, was viele sehen: „Ich weiss, dass ich nicht weiss“. Der Patient wurde aufgerufen und brach die Wartezimmer-Lektüre abrupt ab. Als er dann, im Praxisraum auf dem Behandlungsstuhl sitzend, auf eine riesige Luftaufnahme von Rio de Janeiro blickte und der strahlende Doktor ihm auch zahntechnisch eine Perspektive eröffnete, war die Welt wieder in Ordnung. Das Ich stellte keine weiteren Forderungen. Der Patient trat im Septemberlicht radelnd gutgelaunt den Heimweg an und auch der Lümmel aus der letzten Reihe schwieg für eine Weile.

 

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1 Comment

  1. Michael Engelbrecht:

    Eine Luftaufnahme von Rio funktioniert gerade noch, um eine Illusion zu erzeugen. Man zoomt näher ran, und das Elend würde sichtbar. Das Land eines fürchterlichen Präsidenten. Aber vielleicht war es eine historische Aufnahme. Aus der Zeit, als der Bossa erfunden wurde, und die Diktatoren von damals noch nicht im Amt waren, und Caetano Veloso von einem anderen Brasilien träumte.


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