Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2020 6 Mai

„Wir sind Schaufensterpuppen“

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | 1 Comment

 

Ich sitze in einem Strandkorb, eingemummelt, und erinnere mich an eine Stunde unseres freigeistigen katholischen Religionsunterrichts (auch so etwas gab es), in der auf einmal das erste oder zweite Kraftwerk-Album, das mit dem grünen Hütchen, zur Sprache kam. Keine Ahnung, ob das Album nur in den hinteren Reihen zirkulierte, oder ein Stück vorgestellt und besprochen wurde. Ja, im Religionsunterricht. Die fremden Töne faszinierten mich, und einige Leben später kaufte ich mir in einem Second Hand-Laden in Berlin eben dieses Album. Eine gepflegte ausländische Nachpressung. Diese beiden Debutwerke verschwanden rasch aus allen Recycling-Optionen, als hätte es sie nie gegeben, und die Kraftwerk-Geschichte erst mit „Autobahn“ begonnen. Dabei waren es ungemein facettenreiche Werke, die keine einheitliche Richtung hatten, aber so viele Quellen kreativ anzapften, wunderlich und unberechenbar.

Doch die Männer von Kraftwerk hatten anderes im Sinne, ein „corporate branding“, und da stand diese verquere Musik der Anfänge deutlich im Wege. Zudem wollte die Formation (Holger Czukay nannte sie mal in einem Gespräch eine „Firma“) „nicht in psychedelischer Hitze verbrennen. Sie suchen gerade nicht nach einer Entfesselung der musikalischen Mittel und einer Entgrenzung der künstlerischen Subjektivität in den endlosen Jams der erweiterten Kollektivbewusstseine – vielmehr wollen sie ihre Musik immer kälter werden lassen und immer weniger individualistisch.“ So schreibt Jens Balzer es in seinem Nachruf auf den einem Krebsleiden erlegenen Florian Schneider. Als ich die Nachricht las, wurde mir klar, dass die einzelnen Mitglieder der Gruppe, für mich jedenfalls, hinter dem Gesamtwerk verschwanden. Ich las keine Geschichten über sie, und bezweifle, dass sie besonders persönlich gefärbt gewesen wären.

Futuristisch war das Zauberwort, und Technik-Kritisches hörte ich in der Musik auch nicht heraus. Was mein Hören anhing, blieb die Faszination für ihre grossen Werke seltsam unterkühlt, bis auf eine Ausnahme. „Die Mensch-Maschine“ erschien 1978, ich kaufte das Album, es war die für lange Zeit erste und einzige Liebesbeziehung zu einem Opus der Band. Wenn ich mich daran erinnere, wie ich diese Musik gerne beim Duschen hörte, im siebten Stockwerk eines Hochhauses nahe Würzburg, in einem Jahr aus Himmel und Hölle, wundere ich mich fast, dass die „Songs“ mir damals sehr sinnlich, sehr warm vorkamen, nicht nur wegen des später erst zum Hit sich mausernden Song mit dem „Modell“. Da erwachte all diese Künstlichkeit zum Leben und verströmte eine Energie, ja, eine Herzenswärme, die mich immer wieder neu belebte. Sicher ein wenig paradox.

Später wurden ihre Alben sorgsam remastert, und mich packte vor allem die CD „Trans Europa Express“. Ein Fest für jede dezente Stereoanlage, und ja, in den letzten zehn Jahren ist ihr Werk endlich bei mir angekommen. Ich höre den durch Europa rauschenden Zug nur laut, ich kenne keinen der Passagiere und den Zugführer auch nicht, die Musik kommt aus der alten BRD, ich bin auf einer Zeitreise, in einem Museum für Zeitgenössische Melancholie. Seltsam. 

 

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