Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2019 11 Dez

How poor would be the world without ADHD

von: Hans-Dieter Klinger Filed under: Blog | TB | 1 Comment

 
 

      piano lesson

 
 
 

singing lesson      

 

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1 Comment

  1. Hans-Dieter Klinger:

     
     
    paganini – distribution – collier
     
     

    Gestern hat mich mein Mädel auf etwas aufmerksam gemacht, das mir bis jetzt entgangen war. Kein Wunder, denn es ist heutzutage gar nicht so einfach, aufzufallen bei der Sintflut an medialen Inhalten, bei der Beschleunigung – das ist nicht nur ∆v/∆t – aller Dinge. Die Konkurrenz ist groß in Zahl und Können. Seit gestern beschäftigt mich „etwas“ fast unentwegt, auch wegen des Wirbels an Assoziationen, der davon in Gang gesetzt wurde.

     
    PAGANINI
     

    Ich nehme an, es gab Zeiten, da musste man nicht auffallen. Leonin und Pérotin sind die ersten Komponisten der Abendländischen Kunstmusik, deren Namen wir kennen, zufällig kennen. Sie sind uns überliefert von Anonymus IV, einem englischen Studenten, der zwischen 1270 und 1280 an Notre Dame in Paris arbeitete.
    Zur Orientierung: Jan Garbarek hat im Album Remember Me, My Dear saxophone Kommentare gegeben zu Pérotins Organum Alleluia nativitatis, gesungen vom Hilliard Ensemble.

    Endlich aber, auf der Bühne, kam eine dunkle Gestalt zum Vorschein, die der Unterwelt entstiegen zu sein schien. Das war Paganini in seiner schwarzen Gala. Der schwarze Frack und die schwarze Weste von einem entsetzlichen Zuschnitt, wie er vielleicht am Hofe Proserpinens von der höllischen Etikette vorgeschrieben ist. Die schwarzen Hosen ängstlich schlotternd um die dünnen Beine. Die langen Arme schienen noch verlängert, indem er in der einen Hand die Violine und in der anderen den Bogen gesenkt hielt und damit fast die Erde berührte, als er vor dem Publikum seine unerhörten Verbeugungen auskramte.
    […]
    Hat er diese Komplimente einem Automaten abgelernt oder einem Hunde? Ist dieser bittende Blick der eines Todkranken, oder lauert dahinter der Spott eines schlauen Geizhalses? Ist das ein Lebender der im Verscheiden begriffen ist und der das Publikum in der Kunstarena, wie ein sterbender Fechter, mit seinen Zuckungen ergötzen soll? Oder ist es ein Toter, der aus dem Grabe gestiegen, ein Vampir mit der Violine, der uns, wo nicht das Blut aus dem Herzen, doch auf jeden Fall das Geld aus den Taschen saugt?

    Heinrich Heine, aus „Florentinische Nächte“

    Paganini versetzte mit seinen violinistischen Kunststücken das Publikum in ungläubiges Staunen, in einer Art, die viele glauben machte, er habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Mag sein, dass er selbst das Dämonische in seinem Habitus mit seiner äußeren Erscheinung inszenierte. Gestorben 1840, wurde ihm ein christliches Begräbnis verweigert, was natürlich perfekt zum Ruf eines „Teufelsgeigers“ passt. Aber die Sachlage war wohl doch eine andere: Er war aufgrund seines gesundheitlichen Zustands nicht in der Lage, mündlich die Beichte abzulegen. Seine Stimme war infolge einer weit fortgeschrittenen Kehlkopf-Tuberkulose vollkommen zerstört. Erst 1896 wurde er endgültig auf dem Friedhof von Parma beigesetzt, wo er bis heute ruht.

    Dennoch trifft zu, dass von Seiten der Kirche Musik – wenn es nicht Kirchenmusik war – als Werk des Teufels angesehen wurde, eine Ideologie, die noch den Rock’n’Roll einholte.

     

    DISTRIBUTION
     

    Das ist ein Begriff, der zwar in unterschiedlichen Fachgebieten Anwendung findet, in erster Linie aber an wirtschaftliche Phänomene denken lässt: Verteilung von Einkommen, Verteilung von Waren etc. Seit Musik eine Ware ist, kann man sie verteilen, vor allem, seit sie festgehalten werden kann.

    Eigentlich konnte Musik schon immer festgehalten werden, nämlich im Gedächtnis. Ich habe einen Film gesehen, der einen westafrikanischen Griot beim Unterrichten seines Sohnes zeigte: Weitergabe einer altehrwürdigen Kultur aus der Seele, mit der Stimme, durch das Ohr, ins Innere. Das ist eigentlich keine Distribution im merkantilen Sinn, sondern Tradition.

    N: Wir haben gehört – wir sind überall gewesen, wo es Leute gibt, die singen – und einige Sänger haben uns erzählt, daß sie ein Lied sofort nachsingen können, wenn sie es von einem anderen Sänger gehört haben … genau wie es war, Wort für Wort. Ist das möglich, Demail?
    D: Das ist möglich … das weiß ich aus eigener Erfahrung. Als ich mit meinen Brüdern zusammen war und mich um nichts zu kümmern hatte, brauchte ich nur einen Sänger ein Lied zur Gusle singen zu hören, und nach einer Stunde habe ich das ganze Lied gesungen. Ich kann nicht schreiben. Ich habe jedes Wort widergegeben und keinen einzigen Fehler gemacht.

    Albert B. Lord, Der Sänger erzählt – Wie ein Epos entsteht (Seite 54)

    Die Kompositionen Leonins und Pérotins wurden in ihrer Zeit tradiert. Von Distribution würde ich nicht sprechen, denn das Medium zum Aufbewahren war die Schrift, die Handschrift, langwierig und sorgfältig zu erstellen.

    Die massentaugliche Herstellung von Noten im Druckverfahren war aufwändig und kompliziert, setzte etwa 50 Jahre nach Gutenbergs Erfindung ein und ermöglichte schließlich die Etablierung eines merkantilen Verlagswesens. Aber Verleger brauchten einen Markt für ihre Waren, und der entwickelte sich mit einer gewissen Rasanz im 18. Jahrhundert in Symbiose mit einer aufblühenden bürgerlichen Musikkultur, die auch ein öffentliches Konzertleben hervorbrachte. Ohne diese Öffentlichkeit, ohne Publikum gäbe es nicht den freischaffenden Komponisten – ein Status mit spezifischen Implikationen – und den reisenden Virtuosen. Das Konzertwesen ist eine Platform der Distribution.

    Paganini ist aufgefallen. Als reisender Virtuose, musste er auffallen um sein Brot zu verdienen. Heinrich Heine erkannte, dass er auf jeden Fall das Geld aus den Taschen des Publikums saugt. Nach seinem Tod 1840 soll sich sein Vermögen auf 3-4 Millionen Francs belaufen haben.
     
    JACOB COLLIER
     

    Musik entsteht erst im Erklingen – Gedächtnis, Schrift, Druck hin oder her. Die Erfindung des Buchdrucks war ein technologisches Erdbeben, wie für uns heute das Internet. In Sachen Musik liegt dazwischen ein weiteres gewaltiges Beben: die Erfindung der Schallaufzeichnung. Sie hat immensen Einfluss auf unser Hörverhalten, sie ermöglicht einen schier grenzenlosen Zugriff auf die Musik der Welt …

    Jacob Collier ist aufgefallen. Er ging nicht den Weg über Wettbewerbe, ging nicht Klinkenputzen bei den A&R-Managern der Plattenlabels, verzichtete auf das endlose Verschicken von Demo-Bändern, startete nicht in eher unbekannten Clubs. Er begann offenbar zu Hause. Sein Kanal ist das Internet, eine neue Platform der Distribution.

    Warum ist er mir nicht aufgefallen, besser gesagt: warum ist er mir erst gestern bekannt geworden? Ich bin sicher, das liegt an YouTube, dessen Algorithmen mir das servieren, was meiner bisherigen Auswahl ähnlich ist. YouTube hat KEINE Ahnung von meiner Neugier und Offenheit. Aber mein Mädel fischt glücklicherweise in anderen YouTube-Pools …

    Jacob Collier fällt auf wenn er einem endlich aufgefallen ist. Paganini hat die Grenzen der Violintechnik verschoben, Collier hat jetzt schon die Grenzen der Elektronischen Musikinstrumente überschritten. Es hat etwas paganinihaft Dämonisches, wenn man in der piano lesson Don’t Stop ‚Til You Get Enough sieht, wie die Tasten des YAMAHA-Flügels wie von selbst spielen.

    If someone told me he was playing those notes with his mind I wouldn’t be surprised

    Jacob felt limited by his human form. He therefore decides to use his telekinesis to duet with himself.

    I won’t stop watching and listening this guy’s music, denn hier ist ein Hochbegabter am Werk, ein Multiinstrumentalist, ein begnadeter Pädagoge, ein talentierter Sänger, jemand mit profundem Wissen über Harmonielehre, Rhythmik und was weiß ich noch …

    Kein Wunder, bei dieser Familie. Folgendes hole ich bei Wikipedia ab:

    Musik gehörte stets zu seinem Leben und dem Leben seiner Familie. Seine Mutter, Susan Collier, ist eine Musikdozentin, Violinistin und Dirigentin an der Royal Academy of Music. Ihr Vater, Derek Collier, war ebenfalls ein an der Royal Academy of Music lehrender Violinist, der mit Orchestern auf der ganzen Welt auftrat. Jacob Collier liebt es nach eigener Aussage, mit seiner Familie Bachchoräle zu singen

    Das Wichtigste dürfte sein, dass er seinen eigenen Weg wählen konnte und gehen kann. Seine „Fingerfertigkeit“ beherrscht nicht nur allerlei Zupf- und Schlaginstrumente, sondern auch musikalisches Hardware- und Software-Equipment. Der Geisterflügel ist übrigens ein YAMAHA-Disklavier, ein zeitgenössisches Player Piano. Die aberwitzigen Chorsätze – sie erinnern mich an jene der Vokalgruppe Take Six – werden erschaffen mithilfe eines speziellen Vokalharmonizers. Jacob ist ein Eklektiker, aber einer, der aus Vergangenem Zukünftiges kreiert.

    Jacob Collier ist aufgefallen im Internet. Jetzt aber scheinen Konzertveranstalter, Plattenfirmen scharf auf ihn zu sein. Es gibt inzwischen drei Alben von ihm. Das erste hat den Titel In My Room. Von dort kommt er her.
     
     
    ENCORE
     
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