Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

Wie so oft machten wir abends einen Abstecher zu S., der ein paar Jahre älter war als wir, der schnellste und solidarischste Postbote (z.B. Zustellung blauer Briefe an den primär Betroffenen) im Bezirk war und über eine große Plattensammlung verfügte. Er wohnte in der Dienstwohnung der backsteinernen ehemaligen Grundschule in der Mitte des kleinen Dorfes im Vordertaunus, in dem ich die meiste Zeit meiner Jugend verbrachte. Hier war sonst abends definitiv nichts zu machen und so spielte sich viel im Privaten ab. An diesem Abend war die Stimmung, warum genau weiß ich nicht mehr, etwas gedämpfter und so entschied er sich uns Desertshore von Nico, vielleicht mehr aus Selbsttherapie aufzulegen. Schon mit den ersten Klängen öffnete sich der Raum zu einer Musik, die mir in ihrer radikalen Klarheit und Schwermut, getragen von dieser einzigartigen tiefen, schnörkellosen Altstimme wie aus einem Seelengrund emporgestiegen schien. Einfach ein indisches Harmonium (das ihr von Patti Smith gestiftet wurde – „ich brauche das Geld gerade nicht…“) und diese Stimme, die selbst aus bekannt erscheinenden Melodiefragmenten etwas völlig Neues, Einzigartiges, aber auch Verstörendes machte. Eine tiefe Sehnsucht, völlige Kompromisslosigkeit und eine unglaubliche Direktheit lagen in der Musik von Nico, die ihre musikalische Karriere nur wenige Jahre davor mit der legendären Platte mit der abziehbaren Banane von Velvet Underground begonnen hatte. Nach ihrem Debüt Chelsea Girls hatte sie zudem mit The Marble Index eines der radikalsten und immer noch stark unterbewerteten Alben der frühen 70er Jahre veröffentlicht. „Schräg, düster, schön, jenseitig, klaustrophobisch – diese Platte ist alles gleichzeitig“ schreibt Martin Christoph in der wunderbaren Textsammlung von Manfred Rothenberger und Thomas Weber in Zusammenarbeit mit dem Institut für moderne Kunst Nürnberg, das gerade erschienen ist. Es versammelt Fragmente, Texte, Essays, Interviews, Impressionen, Phantasien und unzählige, auch private Bilder, vieles davon noch nie veröffentlicht, die sich aus der Perspektive von Freunden, Fotografen, Künstlern, Musikern und Wegbegleitern entfalten, um sich dieser beeindruckenden, unberechenbaren und faszinierenden Frau, die sich zeitlebens seltsam fremd blieb, behutsam anzunähern. Schnell war ich den den hunderten von Seiten versunken und habe nebenbei (geht das überhaupt?) die beiden erwähnten Alben immer wieder gehört, die mich nie verlassen hatten und sich heute noch so unnahbar wie frisch anhören wie vor über 40 Jahren.

 
 
 

 
 
 

Morgen Abend gehe ich wieder zurück, nachdem ich alles versäumt habe. Bis auf einige interessante Träume. Erscheint mir alles ziemlich unwichtig hier. Nico

 

Bleibt nur noch auf Nico‘s abgründige und apokalyptische Version von The End auf dem gleichnamigen Album hinzuweisen, die finaler und bodenloser in einer jenseitigen Leere verhallt, als es The Doors je hinbekommen hätten. Es ist aber nicht das letzte Stück auf diesem Album: bleischwer und niederdrückend folgt als allegorisch letzter Titel dann das Lied der Deutschen …

This entry was posted on Montag, 4. November 2019 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

1 Comment

  1. Jan:

    Den Postboten hätte ich mir auch so manches Mal gewünscht.


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