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Archives: Juni 2019

The Long And Far Away Gone ist einer der 20 besten Kriminalromane, die mir in diesem Jahrhundert begegnet sind. Lou Berney ist auch ein „music lover“, der in dem Roman den Soundtrack der Achtziger Jahre dezent einfliessen lässt. Am kommenden Freitag erscheint eines der besten Alben, die Bruce Springsteen je aufgenommen hat, manche werden das Werk als „nostalgisches Cowboy-Album“ abhandeln, doch es ist so viel mehr. Hier zwei Stories zu „Darkness on the Edge of Town“, eine sehr, sehr kurze von Lou, und ein ziemlich kurze von mir. (me)

 

 

 

 

It’s 1978, I’m 13 years old, walking down the street, a dicey neighborhood we lived in at the time, and some high school kids in a speeding car throw a full can of beer at my head. 

I get home covered in beer and blood and discover, insult to injury, that those dipshits at Columbia Record Club have screwed up my order. Instead of the Andy Gibb album I wanted, they’ve mailed me something called „Darkness on the Edge of Town.“ But then I look at the photo of the scrawny, greasy, dazed-looking guy on the album cover and I think: „Wow, that’s exactly how I feel right now.“ Side 1, Track 1: „Badlands“, and life made sense.   (Lou Berney)

 

Es ist 1978, ich bin 23, wohne in Gerbrunn bei Würzburg, und meine Verlobte verlässt mich. Das Wort „Verlobte“ hört sich heute wie tiefes 19. Jahrhundert an. Ich habe definitiv Liebeskummer, und lese „Westwärts 1&2“ von Rolf Dieter Brinkmann. In jener Zeit stosse ich im „Spiegel“ auf einen Artikel zu Bruce Springsteen, der zum „neuen Dylan“ erklärt wird. Naja. Es ist Hochsommer, und ich habe verdammt noch mal Liebeskummer.

Ich komme mit einer unheimlich sympathisch wirkenden Apothekerin ins Gespräch, und  frage sie, ob wir uns treffen können. Sie sagt, dass sie einen Freund habe. Ein paar Wochen später höre ich, dass sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Ich kaufe „Darkness On The Edge Of Town“. Ich höre die Platte oft, und versuche meine verlorene Liebe zurückzugewinnen. An einem Nachmittag. Wie gesagt, Hochsommer.

Ich besuche sie mit dem Auto in Veitshöchheim, oder ist es doch ein anderer Ort am Rande von Würzburg? Sie wohnt in einem Appartment, blickt vom Dachgeschoss auf ein kleines Schwimmbad und eine Weide mit Schafen. Sie ist unheimlich schön, und ich bekomme keine Chance mehr. Im Radio läuft „Baker Street“, das Saxofonsolo, Gott, bin ich fertig.

Ich lege die Schallplatte auf, sie macht uns einen Tee, ich möchte noch einmal mit ihr schlafen, wenigstens das. Ich liebe sie noch (oder auch nicht), habe einen Ständer und sehe die Schafe im Abendlicht. Ich habe keine Chance. Dies ist ist unsere letzte Platte. „Darkness On The Edge Of Town“. Ein langer Weg, der mit „Desire“ begann, mit „Zuma“, und „Yellow Fields“.  Seit 1978 habe ich das Album von Bruce S. nicht mehr gehört.

2019 1 Juni

„Lost River“

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Die Geschichte der frei improvisierten Musik hat, seit den frühen Tagen des Free Jazz und seiner Randzonen, ein  spezielles Kapitel  fliessender Atmosphären entfaltet, abseits vertrauter Muster und  verlässlicher rhythmischer Fundamente.

LOST RIVER  handelt vom Unerhörten. Jazz ist in Klangspuren erkennbar, im luftig geerdeten Posaunenspiel von Gianluca Petrella, in flüchtigen Webereien des Gitarrenspiels von Eivind Aarset, in der Puls- und Rauschforschung von Michele Rabbias Schlagwerk. LOST RIVER betritt auch, in der Art der Einarbeitung elektronischer Schwingungen, ein abenteuerliches Grenzgebiet von freier Improvisation und Ambient Music.

Nur selten zeichnet sich ein klar definiertes Führungsinstrument  ab, Vorder- und Hintergrund changieren – hat die Posaune gerade  noch eine melodische Figur umrissen, kann sie plötzlich pure Textur werden. Das Album setzt eine Tradition fort, an der Manfred Eicher seit 50 Jahren als Produzent mitgewirkt hat, eine Kammermusik unaufdringlicher Intensität, die im Idealfall, und der ist hier realisiert, aus allen Begrenzungen heraus ins Offene treibt. Kammermusik mit Panoramafenster – keine einzige verschenkte Note, und eine perfekte Dramaturgie!

Denn das Haus ist unser Winkel der Welt.“

Das Haus beschützt die Träumerei, das Haus umhegt den Träumer, das Haus erlaubt uns, in Frieden zu träumen.“

Das Haus (ist) für die Gedanken, Erinnerungen und Träume des Menschen eine der großen Integrationsmächte…“

Wenn man vom Elternhaus träumt, in der tiefsten Tiefe der Träumerei, dann hat man an dieser ersten Wärme teil, an dieser wohltemperierten Materie des materiellen Paradieses.“

Wohlgemerkt, dem Haus ist es zu danken, daß eine große Zahl unserer Erinnerungen `unterge-bracht´ sind.“

Alle Zitate aus: BACHELARD, Gaston: Poetik des Raumes, München 1960

 

Es war ja schon einigermaßen ungewöhnlich, dass der Autor einen Roman geschrieben hat – Gegen die Welt -, in dem es bis zur Unlesbarkeit verblasste Schrift und leere Seiten zu bewundern gibt, ebenso zweigeteilte Seiten, zwei Handlungsstränge laufen 155 Seiten parallel, jeweils auf den Buchseiten oben und unten. Und nun das „Wendebuch“. Hält man das Buch so in der Hand, dass das orangene Lesebändchen nach unter fällt, hat man es mit dem Buch “Ein Haus auf dem Land“ zu tun, dreht man das Buch, das Lesebändchen ist nun unten befestigt und ist nach oben zu legen, kann man jetzt mit dem Buch “Eine Wohnung in der Stadt“ zu lesen beginnen. Dieser Buchteil hat 232, jener 189 Seiten.

Die Rede ist von Jan Brandt (*1974 in Leer/Ostfriesland) und seinem neuen, großartigem Buch Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt: Von einem, der zurückkam, um seine alte Heimat zu finden / Von einem, der auszog, um in seiner neuen Heimat anzukommen (VÖ Mai 2019). Kennengelernt habe ich das Werk von Jan Brandt über den außergewöhnlichen, fabelhaften Roman Gegen die Welt (VÖ Nov.2011; siehe auch “Gregor öffnet seinen Bücherschrank vom 03.01.2012“). Es folgten die Bücher Tod in Turin (März 2016), Stadt ohne Engel: Wahre Geschichten aus Los Angeles (Sept.2016) und Der magische Adventskalender (Nov.2018; siehe auch “Gregor öffnet seinen Bücherschrank vom 05.12.2018“).

 

 

 

 

 

 

Meine Lektüre habe ich mit dem Buch “Ein Haus auf dem Land – Von einem der zurückkam, um seine alte Heimat zu finden“ begonnen. Jan Brandt erzählt die Geschichte zweier Brüder, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ihr Glück in den USA suchten, der eine, Arend, fand es tatsächlich, sein Glück, und blieb, der andere Jan Brandt, der Urgroßvater des Autors, kehrte nach sechs Jahren zurück in die Heimat. Auf einer USA-Reise im Jahre 2013 versuchte der Autor Spuren seiner Vorfahren zu entdecken, er berichtet davon in diesem Buch.

Drei Jahre später – Jan Brandt bemüht sich verzweifelt eine bezahlbare Bleibe in Berlin zu finden – erfährt er, dass in Ihrhove – ein Ort, der in der alten Heimat des Autors zu finden ist – das urgroßväterlich Haus, ein Gulfhof, erbaut 1863, zum Verkauf stehe. Der Urgroßvater hatte hier einen blühenden Kolonialwarenladen betrieben und in dem Haus bis zu seinem Tod 1931 auch gelebt. Der Großvater bot das Haus dann 1951 zum Verkauf an. Ein Drogist kaufte schließlich das Anwesen, das nun nicht mehr nicht in Familienbesitz war. Dieser Drogist, Jürgen Thurau, war der letzte Drogist des Dorfes. Das Haus sollte später Vorbild für die Drogerie Kuper in Brandts Roman Gegen die Welt werden. Brandt schreibt über die Geschichte dieses Hauses, in dem er ja nicht aufgewachsen ist, das aber dennoch in diesem Buch für eine gewisse Verwurzelung, Verortung, für einen Sehnsuchtsort steht, in einer Zeit, in der – siehe eben nicht nur Berlin und Stuttgart, sondern nun auch hier in Ihrhove – alles Alte nutzlos geworden ist, weil es nicht genügend Geld einbringt und deshalb abgerissen wird. Besonders anschaulich wird das dem Leser vor Augen geführt in einer Aufzählung geschichtlicher und kultureller Ereignisse. Was ist in der Zeit, in diesen 150 Jahren, in der dieses Haus in Ihrhove steht, in der Welt passiert, beginnend mit dem Sezessionskrieg in den USA, der Ermordung Abraham Lincolns und endend mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA und den Demonstationen der Frauen für Frauenrechte, für Menschenrechte, für Respekt, Tolerenz und Demokratie, das zählt Jan Brandt auf 34 Seiten in einem einzigen Satz auf. „Und die Zeit wurde hier zum Raum“ (S.103).

Mich erinnert diese Passage an das jüngste Buch von Richard Powers Die Wurzeln des Lebens, in dem der Autor schildert, was die jahrhundertealten Bäume alles “gesehen hätten“ und nun einfach aus Profitgier gefällt würden …

Brandt schildert nun, wie er sich bemüht, das urgroßväterliche Haus zurückzukaufen, um es vor dem Abriss zu bewahren. Anschaulich und sehr detailgenau werden diese Versuche erzählt, angereichert mit Fotos und Ansichtskarten und immer wieder mit Überlegungen zum Thema “Heimat“: wie wollen wir leben, welche Rolle spielt das Haus, die Wohnung, die Kontinuität. Was bedeutet es auf dem Land, im Dorf zu wohnen, in dem es keinen Ortskern mehr gibt, nur noch den Lidl oder den Aldi am Ortsrand, sonst nur noch leerstehende Geschäfte, was heißt es in der Großstadt zu leben, in der, wie der Immobilienmarkt Berlins verdeutlicht, Wohnen vollends zur Ware geworden ist?

 

 

 

 

 

 

Diese Frage führt zur Lektüre des Zweiten Buches (übrigens auch das reich bebildert).

“Eine Wohnung in der Stadt – Von einem, der auszog, um in seiner neuen Heimat anzukommen“ beginnt mit der Erzählung vom Ende des Aufenthaltes in London und der Suche nach einer neuen Heimat in Berlin (1998/1999): „Die Sehnsucht nach Freiheit und die Sehnsucht nach Sicherheit sind die Fliehkräfte meines Lebens“ (S.47) Jan Brandt wohnt zunächst in WGs, die Mieten sind in dieser Zeit durchaus noch zu bezahlen, das Leben interessant, abwechslungsreich, viele neue Bekannte und Freunde, man beginnt sich heimatlich zu fühlen. Es folgen zwei Jahre in München, auch hier wohnt Jan Brandt in einer WG. Zurück in Berlin wächst der Wunsch nach einer eigenen Wohnung, nach Ruhe, um schreiben zu können.

Erzählt wird nun die Geschichte eines Hauses am Landwehrkanal in Kreuzberg, in dem der Autor eine 100 Quadratmeter-Wohnung im Hinterhaus für 625 Euro beziehen kann. Allerdings stellt sich alsbald heraus: es gibt Probleme, Ratten, der Keller, die Treppen, überhaupt das ganze Haus ist in einem betrüblichen Zustand, der Vermieter sollte wirklich etwas tun. Da kaum etwas geschieht, sieht sich unser Autor gezwungen, die Wohnung zu verlassen und in eine wenige Straßen entfernte Unterkunft zu ziehen (2005-2007).

Kaum fühlt sich unser Autor einigermaßen heimatlich, folgt die Kündigung dieser Wohnung aus Gründen des Eigenbedarfs. Die nun folgenden Kapitel beschäftigen sich abwechselnd mit der Wohnungssuche, bzw. den Besichtigungen von Wohnungen, die man dann ohnehin nicht bekommt und der Detektivarbeit des Autors, die Eigenbedarfskündigung zu entkräften.

Dargestellt wird in diesem Buch, wie innerhalb von nur 20 Jahren die Anzahl bezahlbarer Wohnungen in Berlin gegen Null tendiert und Wohnen vollends zur Ware in den Händen von Investoren und Spekulanten wird. „Berlin war keine Heimat, sondern ein Provisorium geworden, ein Ort des Übergangs“, schreibt der Autor.

„Während ich mit meinen zwei Koffern durch die Straßen zog, von einem Provisorium zum anderen, sehnte ich mich nach Beständigkeit, danach, endlich irgendwo anzukommen, in der Zukunft oder in der Vergangenheit.“

 

Zur Musik, die in diesem außergewöhnlichem Buch erwähnt wird, Jan Brandt nennt vier Titel.

 

Herr Nilsson: “Hartes Brot“ auf Liebesleid und Fischigkeit, Berlin 1998

Herr Nilsson: “Unser Dorf“ auf Herr Nilsson ist ausgezogen, Berlin 1999

Knarf Rellöm: “Ihr Seid Immer Nur Dagegen, Macht Doch Mal Bessere Vorschläge“, auf: Bitte vor R.E.M. Einordnen, Hamburg 1997

Ton, Steine, Scherben: “Rauch-Haus-Song“, auf Keine Macht für Niemand, Berlin 1972


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