Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2019 2 Jun

Ein Termin mit Herrn Rihm

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | Tags:  | 4 Comments

„Ich muss nicht an irgendwelchem Zirkus teilnehmen, um wahrgenommen zu werden, sondern ich kann ich sein – und ich kann das in aller Radikalität. Ich kann wirklich eine ganz private, zurückgezogene Existenz führen – mir sehr zur Freude.“

(W. Rihm)

 

Dieses Fernsehporträt hatte ich mir vorgemerkt. Dem Misstrauen gegenüber Mediatheken geschuldet (nicht alle sind so fix wie Netflix) schaltete ich gegen meine Gewohnheit schon tagsüber den Fernseher ein, denn normalerweise bekomme ich vom daytime viewing eine semi-depressive Stimmung. Zur besten Frühschoppenzeit am Sonntagmorgen also wurde wiedermal eine Regel durch die Ausnahme bestätigt. Ich ahnte, es würde sich lohnen, aber dass es so gut war – wer konnte das wissen? Was kam, war der Hammer! Soweit ich mich erinnere, waren CDs von Wolfgang Rihm die einzigen aus der Abteilung Klassik, für die ich bereit war, Geld auszugeben, damals als man noch CDs sammelte, wenn auch in stets bescheidenem Maße. „Gesungene Zeit“ beispielsweise, ein Violinkonzert mit Anne-Sophie Mutter. Dann erinnere ich mich gerne auch an ein Interview aus der Essaysammlung Wie kommt das Neue in die Welt?. Dort erzählt der Komponist, sobald ein Termin warte, habe er schon drei Tage vorher schlechte Laune. Das sprach mir mir aus der Seele: hoch lebe die Terminfreiheit für alle Tage! Bemerkenswert, wie dieses empfohlene Fernsehportät zeigt, ist nämlich auch die Qualität der sprachlichen Äusserungen Wolfgang Rihms, in denen sich die Prägnanz seiner Kompositionen widerspiegelt: direkt, präzise, gehaltvoll, existenziell. Wen wundert es, dass ein Denker namens Sloterdijk zu seinen besten Freunden zählt. Es könnte mich positiv umstimmen, solcher Neuer Musik zukünftig mehr Interesse zu schenken. Ins Offene … Kein Zufall, dass auch zu den jüngst zu Gehör gebrachten Piano Improvisationen eines Manafonisten, was die Körperlichkeit und haptische Kraft betrifft, eine Verwandschaft besteht. It´s a stony road he told us and we trusted what he said. Einem Label namens ECM dürften solche Klänge auch nicht fremd sein. Also, Freunde der Musik in Schottland, Kalifornien, Pennsylvania, hierzulande oder anderswo: Wolfgang Rihm – über die Linien. Grenzgänger des Klangs, man schaue sich das an und wird hernach verwundert und verwandelt sein.

 

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4 Comments

  1. Gregor:

    Habe mir die Sendung gerade angeschaut, total interessant. Vielen Dank für den Tipp!!!

  2. Lajla:

    Rihm verdanke ich ein vergangenes Glück: ich konnte den „Jakob Lenz“ in Brüssel sehen. Ja, man braucht danach einen Cognac.

    Und Rihm beschert mir ein kommendes Glück: ich werde meinen Geburtstag im Hans Henny Jahnn Haus feiern und seine Hommage für ihn erklingen lassen.

    Wünschen wir ihm noch langes Wirken.

  3. Rosato:

    super Tipp

  4. Jan Reetze:

    Sehr schöner Portraitfilm, danke für den Tipp – hätte ich sonst nie entdeckt.

    “Gesungene Zeit” mit Anne-Sophie Mutter ist schon deshalb zu empfehlen, weil das Stück nicht nur so ziemlich alle Schwierigkeiten versammelt, die auf der Violine bewältigt werden wollen, sondern auch, weil auf der CD auch Bergs Violinkonzert zu hören ist. Eine exzellente Einspielung, auch wenn Mr. Levine heute nicht mehr ganz so gefragt ist wie damals.

    Ich muss ansonsten zugeben, dass Rihm nicht zu meinen ganz großen Favoriten gehört, auch wenn er in der Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sicher zu den herausragenden Komponisten gehört. Rihm zumindest hat eine Handschrift, die man immer erkennt, und damit hat er 90 Prozent der dezeit tätigen Komponisten Neuer Musik etwas voraus.

    Vor einigen Jahren habe ich mir seine “Etude d’apres Séraphin” zugelegt, weil ich neugierig war, wie er mit elektronischen Klängen umgeht – aber das ist anscheinend nicht sein Ding. Rihm denkt in den Klangfarben klassischer Instrumente. Ist ja auch nichts Verkehrtes.


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