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2018 27 Nov

Das Flüchtlingsmädchen auf Lampedusa

von: Lajla Nizinski Filed under: Blog | TB | Comments off

Sie saß ganz vorne am Bug. Ich sah sie sofort. Sie hatte eine rote Blume im Haar. Wie hatte sie diese Blume übers Fluchtmeer retten können? Ich stand am Strand und wartete, bis wir das Signal bekamen, die Flüchtlinge aus dem Boot zu heben. Es waren ungefähr 200 Flüchtlinge an Bord. Schwer zu sagen, woher sie kamen. Jedenfalls aus Ländern mit einer großen Sonne. Warum verließen sie alles, um hier mit nichts zu stranden?

Ich hörte das Signal: „Avanti!“ Ich begann durch das Wasser zu waten, direkt auf das kleine Mädchen zu. Ich wollte es zuerst an Land bringen. Ich hob das Nochkind vorsichtig vom Boot und trug es an Land. Es sagte nichts, es blickte geradeaus. Ich stellte es an den Strand und kümmerte mich um die anderen Flüchtlinge. Sie sahen verängstigt aus. Keiner sprach. Sie ließen sich wie Lemminge an Land bringen und saßen dann regungslos im warmen Sand.

Seltsam, ich sah das Mädchen nicht mehr. Die Blume lag am Ufer. Ich ging hin und hob sie auf. Sie war aus Plastik. Ich steckte sie in meine Jackentasche.

Zunächst vergaß ich das Mädchen. Ich ging ins Dorf und setzte mich auf eine Bank auf der Piazza. Kleine Jungs kamen zu mir und scherzten mit mir. Ich war erschöpft. Ich hatte mindestens 30 Menschen an Land getragen. Meine Arme schmerzten. Müde kickte ich den Ball, den mir die Jungs zuspielten zurück. Ich dachte an nichts. Das wars wohl für heute. Morgen würde wieder eine Menschenladung ankommen, da hieß es sich ausruhen und Kräfte sammeln.

Ich ging zu meiner Unterkunft. Es war ein scheunenartiges Haus oder eher eine Abstellkammer für Mehl. Überall liefen Mäuse hin und her. Trotzdem waren die Mehlsäcke dicht. Ich hasste diese Unterkunft. In der Mitte lag meine Matratze, auf der ich mehr wachte als schlief. Ich fürchtete mich vor Ratten. Ein Dörfler hatte mir dieses Lager überlassen. Er sagte, er zöge jetzt zu seinen Kindern, ich könnte sein Eigentum haben. Ich konnte mich nicht so richtig über seine Großzügigkeit freuen. Ich war solche Herzlichkeit nicht gewohnt. Was konnte ich ihm dafür geben? Trotzdem war ich zufrieden, dass ich für mich sein konnte.

Wenn ich an das viehische Zusammengedränge der Boatpeople dachte, war ich in bevorzugter Lage. Ich versuchte einzuschlafen. Es war eine ganze Weile still um mich herum, ich musste wohl eingeschlafen sein. Am Morgen schien die Sonne in mein Gesicht. Das Haus hatte keine Tür. Ich stand auf und ging in eine Bar auf einen Espresso. Die Leute erzählten sich, dass heute Nacht ein Mädchen ins Wasser gegangen sei und von einem Fischer zurückgebracht worden war. Ich fragte, wo das Mädchen jetzt sei, keiner wusste es.

Ich schlenderte durch den Ort, vorbei an der Grotte mit der Madonna und hoffte, dass ich herausfinden könnte, wo sich das Mädchen befindet. Dann kehrte ich um, ging gebückt in die Grotte, die Plastikblume fiel aus meiner Jackentasche. Ich legte sie vor die Madonna. Eigentlich war ich nicht gläubig.  Ich dachte und hoffte, dass das Mädchen vielleicht hierherkommen würde und die Blume mitnehmen könnte. Das wäre für mich der Beweis, dass es noch hier sei.

Ich hörte in der Ferne den Appell: „Avanti!“ Ich lief hinunter zum Strand und reihte mich in die Helferkolonne ein. Ich wusste, morgen würde mein Einsatz auf Lampedusa zu Ende sein. Sollte ich nach dem Mädchen suchen? Sollte ich es vergessen? Vergessen, nein, das ging nicht mehr. Ich entschloss mich, nach meiner Rettungsarbeit zuerst zum Flüchtlingslager zu gehen. Die Wärter am Zaun wollten mich nicht in das Camp lassen. Ich bestand darauf.

Ein unbeschreiblicher Anblick empfing mich: gedrungene schwarze Menschen saßen oder lagen wie leblos auf dem Boden. Ich ging zwischen und über sie hinweg. Ich spürte, wie sich das Suchen in mir zu einer Sehnsucht nach dem Mädchen verwandelte.

Dio mio, lass es mich finden! Ich suchte bis zur Dämmerung. Erfolglos. Am nächsten Morgen sollte ich das erste Schiff nach Agrigento nehmen. Ich hatte noch 8 Stunden Zeit.

Ich musste es finden. Ich suchte in der Grotte, ich suchte am Strand, ich suchte in den Thunfischfabriken. Ich fragte mich nach dem Fischer durch, der ein kleines Mädchen aus dem Wasser gerettet hatte. Ich beschrieb ihm die Kleine. Er schüttelte den Kopf: „Mi dispiace.“

Enttäuscht und traurig ging ich an Bord meines Schiffes. Ich ging an die Reling, um einen letzten Blick auf Lampedusa zu werfen. Unten am Ufer sah ich den Fischer stehen.

Ich hörte ihn singen …
 

Between the windows of the sea

Where lovely mermaids flow

And nobody has to think too much

About Desolation Row.

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