Mangelnder Bedürfnisaufschub – das war in den 80er-Jahren eine beliebte stigmatisierende Zuschreibung besonders an Jugendliche. Ihnen wurde vorgeworfen, sich von tragenden bürgerlichen Tugenden wie „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ entfernt zu haben und dabei gar einen neuen narzißtischen Sozialisationstyp (NST) zu verkörpern. Dies war tatsächlich fein beobachtet und richtig erkannt – scheinheilig war nur, dass man es den Jugendlichen eigentlich nicht vorwerfen konnte, sich so entwickelt zu haben. Es war nämlich bald zu erkennen, dass eine flexible und gern auch sinnentleerte Konsumorientierung durchaus gesellschaftlich wünschenswert ist.
Heute begegnet einem die mangelnde Fähigkeitkeit zum Bedürfnisaufschub bei Alt und Jung. So ist der Termin, wann es Weihnachtsgeschenke gibt, Jahr für Jahr nach vorne gerückt – auch aus der Angst heraus, dass jeder Sechsbisachtjährige zum Gefährder werden kann. Neue PlayStation-Variationen werden in der Regel Anfang November eingespielt.
Auch zahlreiche Jukeboxen erhalten um diese Zeit ihre saisonale weihnachtliche Bestückung, sinnvollerweise zeitnah den Jahresbestenlisten der Manafonistas – den offiziellen! Der Bedürfnisaufschub wird bereits im Juni und Juli immer schwieriger und bricht völlig zusammen, wenn die erste Mein-Schreibtisch-ist-so-voll-Liste erscheint. Es wäre auch zu schade um die ganze schöne Musik der Monate November und Dezember. Deshalb also die umständliche Einleitung.
Hier meine Liste nicht aufgeschobener Neuerscheinungen und Wiederentdeckungen, die es Wert sind, der Jahresbestenliste vorzugreifen:
Ordentlich Krach macht das aus Südfrankreich stammende Psycho-Pop-Garagen-Duo/Trio THE LIMINANAS, auf SHADOW PEOPLE z.B. mit „Istanbul is sleeping“ (nicht mehr lange, bei der Musik).
MICACHU, TAZ AND MAY VIDS klingt wie Picachu und Pumuckel beim Zerstören einer Achterbahn im Europapark. Wie hört sich eigentlich eine einstürzende Autobahnbrücke an?
Anfühlen wird es sich vielleicht wie „Wenn die Landschaft aufhört“ — bestürzende Textfragmente als Beispiel für ein MODERN LIED von SARAH MARIA SUN, der Sopranistin mit dem beeindruckend umfangreichen zeitgenössischen Repertoire.
Noch eine Klassik-CD aus dem Jahr 2017: ETERNAL SOUL. QUATUOR EBENE spielt Musik von und mit MICHEL PORTAL, und das mit einer Leichtigkeit, die das Quartett den berühmten Kollegen Kronos und Balanescu etwas voraus hat (siehe oder höre dazu die 2010 erschienene DVD / CD FICTION).
Die in manchen Publikationen nachzulesenden altjazzväterlichen Ratschläge an die junge polnische Bassistin KINGA GLYK wirkten peinlich; wer solche Jazzsongs schreibt und so einen Sound erschafft, darf auch Geld damit verdienen – selbst wenn social media dabei mit angeblich 20 Millionen Klicks durchaus hilfreich sind.
Die folgende CD A LAS PUERTAS DE EUROPA ist bereits 2016 erschienen, aber erst neulich habe ich vom BARCELONA GIPSY BALKAN ORCHESTRA gehört und noch mehr gehört und noch mehr gehört, – nicht zuletzt wegen der hinreißenden Sängerin Sandra Sangiao, auch wegen der bewusst weiter präsentierten multikulturellen Haltung und – dies bildet keinen Widerspruch – Identität: Del Ebro al Danubio.
Die Neuedition des Jahres ist der Jazzwerkstatt zu verdanken: ALBERT AYLER, MUSIC IS THE HEALING FORCE OF THE UNIVERSE in einem Schuber mit FRAGMENTS OF MUSIC, LIVE AND DEATH OF ALBERT AYLER von PETER BRÖTZMANN, der es schaffte, einen 17-jährigen Schüler lebenslang für Free Jazz zu begeistern. Das war in einem kleinen Berliner Jazzclub, was die Präsenz der Musiker noch verstärkte, und es schien DIE Antwort zu sein auf den von Franz Joseph Degenhardt besungenen DEUTSCHEN SONNTAG.
Als Sommerhit des Jahres wünsche ich mir JE NE PARLE PAS FRANCAIS der Frankfurter Rapperin NAMIKA. „Hört sich irgendwie nice an“ – wie der Sommer eben. Man greife bevorzugt zur Version Beatgees Remix featuring Black M., immerhin für kurze Zeit auf Platz 1 der deutschen Single-Charts!
Die Zufalls-Wiederentdeckung des Jahres 2018 1/2: TOOTS THIELEMANS „It’s hard to say goodbye“ (2000). Er gehörte zu den Musikern, die in den Anfangszeiten von MySpace dem erklärten Fan persönlich zurück mailten; Toots Thielemans tat es auf besonders freundliche Art. Er starb im August 2016 in Brüssel.
Es bleibt spannend, ob PAPITO – meine aktuelle CD des Jahres 2018 – bis zum November auf diesem 1.Platz durchhält. Hier gibt es eine Jazzballade, die dem Abschiedsschmerz noch eins draufsetzt: er ist nicht nur hart, sondern auf Dauer tödlich („Ev’ry time we say good bye we die a little“). Höhepunkt des Songs ist das Luft-Trompeten-Solo der wie immer wunderbaren ERIKA STUCKY.