Früher habe ich am Theater gearbeitet, weil ich dachte, dass es dort um das Erzählen von Geschichten geht. Aber statt Geschichten und interessanten Figuren, statt Handwerk und Inspiration fand ich dort viel zu oft Egomanen, denen es nicht um Inhalte ging. Als ich nach sechs Wochen ohne einen freien Tag, zu vielen Zigaretten, zu wenig Schlaf und zu wenig Nahrung eine Treppe hochlief, versagte mein Kreislauf. Ich setzte mich auf die Stufen und suchte den Grund, warum ich am Theater arbeite, aber ich fand ihn nicht mehr. Meine Geschichten und die Figuren, die immer in mir waren und hinaus wollten, hatten mich allein zurückgelassen. Ich hörte mit dem Theater auf, weil es nichts mehr in mir gab.
Ich folgte keinem Weg mehr außer dem der Wut. Der Wut und der Angst, nie irgendwo anzukommen, nie einen Platz, ein Zuhause zu finden. Ich nahm Aushilfsjobs und befristete Verträge an, und vier Jahre später fand ich eine neue Aufgabe. Ich wurde von einer Medienfirma engagiert, für die ich das Script für eine Bühnenshow erstellen sollte. Für einige Zeit lebte ich nur für dieses Projekt, hatte kleine Flügelchen auf dem Rücken und ein Dauergrinsen im Gesicht. Eines Morgens um 9 Uhr fiel ich aus dem Himmel. Die Firma war insolvent, wir wurden alle entlassen. Ich lag auf dem Asphalt und eine weiße Kreidelinie umrandete meinen Körper.
Mein Partner hob mich auf und besorgte mir einen Job als Monteurin beim Messebau. Ich wurde stark und hart im Nehmen, wurde respektiert und bald schon besorgte ich mir die Jobs selber. Ich behauptete mich in einer Welt aus Schweiß, Muskelkraft, Krach, Dreck, 24-Stunden Schichten, Autobahnen und Hotels. In dieser lauten Welt fand ich meine innere Stimme wieder. Ich nahm Dinge aus dem Leben, Bilder, Augenblicke, Satzfetzen und notierte sie auf Post-Its. Ich begann, über Menschen zu schreiben, die ihren Weg suchen in ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben, die scheitern und wieder aufstehen, die ihren Platz suchen. Ich schrieb eine knapp hundertseitige Geschichte in fünf Tagen herunter. Einfach so.
Es fühlte sich an wie nach Hause kommen.
Nach und nach entwickelte ich aus den Notizen einzelne Geschichten, thematisch völlig unterschiedlich. Dabei benutzte ich immer das Verfremdete. Ich nahm die Post-Its als Basis und fügte frei erfundene Geschichten hinzu. So entstand innerhalb von drei Jahren der Kurzgeschichtenband „Von Menschen“. Ich als Person bin in den Geschichten nie zu finden gewesen. Ich habe vielleicht einfach nicht viel Potenzial als literarische Figur. Doch dann schrieb ich eine Geschichte, die grob auf meinen Erfahrungen basiert, und die Worte, die ich schrieb, fühlten sich richtig an.
Eines Tages kam mich mein Bruder besuchen und erzählte mir von einem seiner Freunde und dessen Leben. Das schrieb ich auf. Ich schrieb von meinem Bruder, von seinem Freund, von früher. Ich schrieb über reale Dinge, über das, was wirklich geschehen war. Und wieder fühlte es sich richtig an.
Heute weiß ich, dass ich die Geschichten überall finden kann. Im realen Leben als komplette Handlungsstränge, in Beobachtungen, als Momentaufnahme in einem Bild, in einer Liedzeile. Ich sammle alles ein, mache mir kurze Notizen und warte. Denn eines weiß ich: Ich kann nicht eine Geschichte schreiben, wenn ich es will, sondern die Geschichte kommt, wenn sie sich aus den vielen Post-Its zusammengefügt hat und bereit dazu ist, geschrieben zu werden. Das ist mein Weg, denn das Schreiben ist mein Zuhause.
Iris Antonia Kogler: „Von Menschen“.