Manafonistas

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2018 24 Jan

Glanzlichter und Schatten

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | 6 Comments

Nicht alles (so genau) wissen wollen
 
Im Buch Lichter des Toren – Der Idiot und seine Zeit von Botho Strauss stöbere ich oft und gerne herum. Aus dem simplen Grund, weil es dem Leser Freiraum lässt, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen und geradezu zum Abschweifen einlädt. Genau jener Schreibstil ist das, den ich einst bei Handke oder Cioran entdeckte und schätzte, weil er zwischen Poesie und Prosa oszilliert und ins Aphoristische tendiert: weder Klartext sprechend noch affirmativ überzeugend, vielmehr tentativ ins Dickicht philosophischen Denkens führend.
 
 
Im Zweifel beheimatet bleiben
 
Sich irgendwann einmal der Gottesfrage widmen, wenn die Zeit dereinst dafür gekommen sein wird. Schwebend dann (in der Art, wie es M neulich trefflich andeutete) und immer freiwillig, von innen, ohne Andrang. „Woran glaubst du denn?“ fragte S, Zeugin Jehovas.

„Nimm bitte die Pistole von meiner Brust!“ meinte ich scherzhaft und fügte ernsthaft hinzu: „Ich glaube an den Riss in allen Dingen.“ Es gäbe unüberbrückbare Gegensätze auf dieser Welt, erläuterte ich, und jener zwischen Christen („der alleinige Gott“) und Anhängern der Gnosis („der abwesende Gott“) sei nur einer unter vielen.
 
 
Gottlos
 
Godless ist ein Netflixserien-Western, den ich zu den besten Western aller Zeiten zähle. Nostalgische Erinnerungen wurden wach an jenes faszinierte Gebanntsein und Mitfiebern mit Lederstrumpf, Tom und Hucky oder dem Seewolf. Hier sind die Helden grossenteils Frauen, die eine Stadt am Rande des Ruins managen und standhaft den Bösewichten die Stirn zeigen, nachdem deren Männer einst bei einem Minenunglück ums Leben kamen.

Passagenweise brutal, aber auch mit Humor und Tiefgang erzählt, menschlich anrührend, spannend und mit tollen Bildern. Kurz gesagt: wiedermal ein Sehnsuchtsstoff. Kleine Kostprobe gefällig? „So eine hübsche Lehrerin habe ich noch nie getroffen. Hatten Sie schon immer den Wunsch, Kinder zu unterrichten?“ „Nein, Sir. Ich war früher eine Hure.“
 
 
Byung-Chul Han
 
Das preisgekrönte Filmporträt mit dem etwas sperrigen Titel Müdigkeitsgesellschaft – Byung Chul Han in Seoul / Berlin beeindruckt nachhaltig. Ähnlich wie das oben erwähnte Buch von Botho Strauss sind auch die Bücher Hans – wie auch dieser Film grossenteils beim kleinen, feinen Verlag Matthes & Seitz erschienen – Einladungen zum Weiter- und Selberdenken.

Es beginnt in Schwarzweiss. Das gibt dem Ganzen einen dokumentarischen, kontemplativen Charakter, wirkt als stilistisches Mittel der Abgrenzung und zeitlichen Unterscheidung. Ein Mann schlendert der Kamera entgegen, rezitiert Handke, schwärmt von Wim Wenders´ Himmel über Berlin, schlendert durch die deutsche Haupstadt, steht in Schöneberg auf seiner Lieblingsbrücke. Einst in Clausthal-Zellerfeld hatte Han zunächst Hüttenwesen studiert, als Fortsetzung eines Metallurgiestudiums in Korea.

Seine Eltern musste er mit diesem vorgetäuschten Studienwunsch belügen, sonst hätte er nicht gehen dürfen. Rückblickend befremdete ihn wohl, so der Eindruck, diese Zeit („Ich ernährte mich nur von Brot und Marmelade, anderes konnte ich nicht essen …“). Eigentlich wollte er nur eins: Philosophie studieren, was er dann auch tat in Freiburg, promovierte über Heidegger. Han liebt die deutsche Sprache und Kultur, das ist deutlich.

Es wird farbig. Einmal im Jahr, immer im Winter, reist Han nach Seoul in Südkorea. Man gewinnt interessante Einblicke in ein fremdes Land von einem, der es kennt. Einmal sagt er, auf einem jener zahlreichen Gräberhügel sitzend, er denke viel über den Tod nach, habe in seiner Jugend sehr viel damit zu tun gehabt.

Träfe ich diesen Wanderer unterwegs (vieles erinnert an den Taoismus), fragte ich auch nach seinem wundersamen Studium der Katholischen Theologie. Doch vieles darf im Dunkeln bleiben, denn wir brauchen ja Geheimnisse wie auch die Schattenbereiche des Nichtwissens.

Ein wesentliches Credo des koreanischen Philosophen selbst ist ja: zu transparent sei alles in der digitalen neuen Welt. Ebenfalls nimmt er den Neoliberalismus aufs Korn. Die Bilder in der U-Bahn in Seoul schockieren: die durchweg übermüdeten Menschen schauen permanent auf ihr Smartphone. Han ist beunruhigt, weil niemand mehr den anderen anschaut: als seien die Gesichter selbst verschwunden. Viele dort begehen Suizid. Er nennt seine Heimat eine „Müdigkeitsgesellschaft im Endstadium“.
 
 
Georg Baselitz
 
Ein Filmporträt des bedeutenden deutschen Malers zeigt, wie sehr seine Kunst mit seinem Charakter (widerborstig, willensstark, sensibel) und seiner Herkunft („DDR“) verwoben ist. Insofern einmal mehr ein Beispiel für den Tatbestand, das durch das Aufzeigen biografischer Lebenshintergründe eines Künstlers oder Autoren sich dessen Werk oft neu öffnet.

Ich sah den Film nach längerer Zeit zum zweiten Mal und jede Sekunde hat sich gelohnt. Unglaublich, wie fleißig solche Menschen sind (im Studium nannten wir sie „Malschweine“). Momentan gibt es, anlässlich zu seinem achzigsten Geburtstag wohl, eine Ausstellung, auf der auch gezeigt wird, wie er ältere, bekannte Motive grafisch äusserst reizvoll remixt.

This entry was posted on Mittwoch, 24. Januar 2018 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

6 Comments

  1. Lajla Nizinski:

    What a wonderful read – all my heroes are mentioned. Not Baselitz, though he is busy as a bee. I respect this too. His sculptures are pretty rough, his paintings weird.

    I add: you don’t have to like everybody / thing :)

  2. uwe Meilchen:

    Das ZEIT Interview in der letzten Woche mit Baselitz hat mich ratlos zurückgelassen – aber da es keinerlei Reaktionen darauf gab, werden seine Ansichten offenbar stillschweigend goutiert.

  3. Michael Engelbrecht:

    GODLESS is awesome

  4. Martina Weber:

    Mein Lieblingssatz in diesem wunderbar ausbalancierten Allrounder:

    „Ich glaube an den Riss in allen Dingen.“

  5. uwe Meilchen:

    Leonard Cohen !! „There’s a crack in everything / that’s how the light gets in“

  6. Gregor:

    Filmporträt „Müdigkeitsgesellschaft – Byung Chul Han in Seoul / Berlin“ ist schon bestellt.

    Bin gespannt. Danke für den Tipp.


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