Manafonistas

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2017 6 Sep

John

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | Comments off

Es ist lange her, als es in der taz gelegentlich eine ganze Seite gab, die der Lyrik gewidmet war. Vor allem Lyriker aus dem Ausland wurden da vorgestellt, mit Foto, Kurzvita, ein oder zwei Gedichten und deutscher Übersetzung. Einmal wurde diese Seite komplett John Ashbery gewidmet. Ich hatte damals noch nicht angefangen, mich wirklich auf die Lyrik einzulassen. Ich fand die Gedichte wahrscheinlich irgendwie interessant, habe sie aber erst Jahre später zu schätzen gelernt. Leider habe ich nicht die ganze Seite ausgeschnitten, aber immerhin drei Gedichte: „Brute Image“, „Forties Flick“ und „My Erotic Double“, alle brilliant übersetzt von Joachim Sartorius. Als mein erster Gedichtband zu etwa zwei Dritteln zusammengestellt war, suchte ich nach neuen Themen und Herangehensweisen und nahm mir die Lyrik von John Ashbery vor. Ich hatte das Gefühl, an einem Punkt angekommen zu sein, an dem ich meine Texte ziemlich verändern musste, damit es mir nicht langweilig würde. Ich wollte mehr über mich schreiben, aber auf eine versteckte, indirekte Art, vieldeutig, unberechenbar, und ich glaubte, dies würde auf mein Leben zurückwirken, was dann auch tatsächlich der Fall war. Natürlich kann man Gedichte von Ashbery einfach nur lesen. Die weit verbreitete Angst vor moderner, in diesem Fall postmoderner Lyrik ist unbegründet. Die Zauberformel besteht darin, sich von dem Anspruch zu lösen, Gedichte seien ein großes Rätsel, das zu erkunden wäre. Gedichte wollen oftmals nämlich nichts besonderes. Sie sind ein Angebot, an etwas teilzuhaben, und das ist manchmal nur ein Wort, ein Rhythmus, eine Zeile. Was Ashbery angeht, suchte ich nach Sekundärliteratur und fand einen ausgezeichneten Zugang in der Dissertation von Ulf Reichart aus dem Jahr 1991 (Innenansichten der Postmoderne. Zur Dichtung John Ashberys, A.R. Ammons´, Denise Levertovs und Adrienne Richs). Ein ganz charmant mit Schreibmaschine gedrucktes Buch. „Was ist Schreiben?“ fragt Ashbery in seinem Gedicht „Ode an Bill“ (in: Selbstportrait im konvexen Spiegel). „Nun, in meinem Fall ist es, nicht unbedingt Gedanken, / Aber Ideen aufs Papier zu bringen – vielleicht: / Ideen über Gedanken. Gedanken ist ein zu großes Wort. / Ideen ist besser, wenngleich nicht genau das was ich meine. / Irgendwann werde ich es erklären. Heute jedoch nicht.“ Am 4. September starb John Ashbery im Alter von 90 Jahren. In der us-amerikanischen Lyrik hat er eine ganze Epoche geprägt.

Dies ist der Anfang seines Langgedichtes „A Wave“ / „Eine Welle“, im Original und in der Übersetzung von Joachim Sartorius:

 
 

To pass through pain and not know it,

A car door slamming in the night.

To emerge on an invisible terrain.

 

Durch Schmerzen gehen und es nicht wissen,

eine Wagentür, die in der Nacht zuschlägt.

Auftauchen in unsichtbarem Gelände.

 

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