Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

Sie schob den Pfeiler mit dem Absperrungsband beiseite. Wir waren special guests und durften die Zone betreten, die anderen Besuchern verwehrt war. Es war ein riesiger, langgestreckter und hoher Saal, Fischgrätparkett auf dem Boden, Stuck an der Decke, die vier Jahreszeiten, vier Elemente, und alle Wände von unten bis oben gefüllt mit Büchern vom 9. bis zum 15. Jahrhundert. Es war etwas Sakrales im Raum, wir sprachen leiser, flüsterten, als würde uns eine Art Geheimwissen umgeben, eine Magie, die in einer alten Zeit stecken geblieben, uns fremd geworden war. Reiseberichte, Religion, Medizin. Eine Welt ohne Elektrizität, ohne Flussbegradigung, ohne Autobahnen. In der Mitte standen ein paar Arbeitstische mit Petroleumlampen. Es war die Bibliothek der Benediktinerabtei in St. Mihiel. Da waren Bücher, die mehr als 25 Kilo wogen. Umschläge aus Ziegenleder, Anfangsbuchstaben bunt verziert. Das Gewicht eines einzelnen Blattes. Die Bibliothekarin erklärte verschiedene Ordnungssysteme: Es wurde sortiert nach Regionen, aus denen die Bücher stammen oder die sie behandeln, nach der Größe der Bücher oder nach ihren Farben, es gab Bücher, die mit einem Fluch belegt waren und ich war fasziniert von der Irrationalität, und wer sagt, was irrational ist. In den Wirren einer Zeit, als die Region mal deutsch und mal französisch war, hatte ein Deutscher ein wertvolles Buch mitgenommen oder gestohlen und als man ihn auffindig machte, schrieb man ihm, das Buch sei mit einem Fluch belegt und dieser Fluch könnte sich nur auflösen, wenn er es zurückgeben würde. Ich gebe hier die Geschichte wieder, wie ich sie verstanden und in Erinnerung behalten habe. Der Mann gab das Buch zurück. Was ist – außer Diebstählen und unsachgemäßer Behandlung durch Menschen – für Bücher gefährlich? A) Das Licht der Morgen-, Mittags- oder Abendsonne, B) Feinstaub, C) Vollmondlicht oder D) Bücherwürmer? Auflösung gibt´s morgen oder übermorgen.

Ich war vielleicht acht oder neun und wenn ich nicht auf dem Spielplatz herumtobte oder auf den Walnussbaum kletterte, der direkt an der A 6 stand, und es gab noch keinen Lärmschutzwall, spielte ich in meinem Zimmer mit  Legosteinen. Meist baute ich auf die größeren grauen und grünen Flächenstücke zwei oder drei kleine Häuser mit ein paar Räumen, die kein Dach hatten, damit ich mit meinen kleinen Gummifiguren, die beste Freunde waren, darin herumlaufen konnte. Ich hatte zwei Bäume, einen flachen, der Schatten eines Baums, und einen moderneren mit einer Art giftgrünem Pilzkopf. Meine Lieblingsfiguren waren ein weißer Eisbär, ein weißer Wiesel und ein gelber Hund. Es gab aber auch einen Pinguin, der irgendwann seine Flügel verloren hatte. Sie unternahmen alles Mögliche, alles ohne Barbie. Einer ging zur Geigenstunde und ich spielte dann eine Etüde. Ich räumte nicht immer alles am Abend auf. Einmal warf mein Vater einen Blick in mein Zimmer und sagte, wenn ich nicht aufräumen würde, würde ich später mal keinen Mann finden. Er sagte das wirklich. Ich hielt generell nicht viel von Erwachsenen, ich fand mein Leben frei und ihres unfrei.

Das, was Gregor seinen Plattenschrank nennt, besteht bei mir aus einem Regal voller Schallplatten, CDs und Audiokassetten. (Bei Gregor sind auch noch Bücher eingeschlossen und letztlich ist bei ihm alles eingeschlossen, was alle wissen, die seine Rubrik lesen.) Wenn ich eine bestimmte Musik hören will, will ich nicht lang suchen. Das System wird durch CDs ohne Hülle erschwert bzw. mit so einer schmalen Hülle, dass Cover und Bandname kaum oder nicht zu lesen sind, das sind dann die, bei denen ich mir einfach merken muss, dass sie im Kasten der CDs ohne Hülle sind. Have Fun With God zum Beispiel. Oder Aurora von Ben Frost. Oder With US Until You´re Dead, von Archive, aus dem Jahr 2012 (Danke, T.). Ich könnte hier auch nochmal den Gedanken aufgreifen, CDs mit passenden Büchern zu platzerien. Ich stelle den wunderbar aufwühlenden Gedichtband „Crush“ von Richard Siken neben Frank Oceans Debütalbum „Channel Orange“. Eine schöne Idee, aber unpraktikabel. Ich würde meine CDs nie nach Labels ordnen. Ich denke nicht in Labels. Ich denke eher in Stimmungen oder daran, ob ich songs oder reine Elektronik hören möchte. Also steht Beat The Champ neben The Magic Whip. Dann gibt es die Abteilung mit The Necks, dem Kammerflimmer Kollektief, Labradford und Eivind Aarset. Was Audiokassetten angeht, da greife ich manchmal, vor allem vor einer Autofahrt, einfach nur wahllos ins Regal und hole irgendeine der Klanghorizonte-Kassetten raus. Hier ist eine aus dem Herbst 2006. Oh, ein vergessener Song, den ich sicher oft gehört habe. Nachtgedanken, beduselt vom Apfelwein, ein Flirt mit einer Barfrau, Selbstironie. Das waren die Stichworte aus Michaels Kommentar, die ich in die Beschriftung aufgenommen habe. Es ist ein Song aus James Yorkstons Album The Year Of The Leopard: Woozy With Cider. – Rückspultaste. Repeat.

This entry was posted on Montag, 26. Juni 2017 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

8 Comments

  1. A.H.:

    Da Licht alle modernen Kassenbons in kürzester Zeit unleserlich macht (und so Garantiezeiten nicht mehr belegt werden können!), wird es eine der „Lichtantworten“ sein. Feinstaub gab es früher nicht, „Bücherwürmer“ klingt niedlich: Aber durch Lesen gehen Bücher in der Regel nicht so schnell kaputt.

    So bleibt das Morgen-, Mittags- und Abendlicht – oder das Mondlicht. Da bei Mondlicht Wehrwölfe und Vampire kommen, die den Lesern gefährlich werden können – und man außerdem Menschen nachts Schlafen schickt, damit die am nächsten Tag wieder arbeiten sollen, ist das Mondlicht sicher die richtige Antwort. Obwohl das Sonnenlicht viel mehr Unheil anrichtet.

    a.h.

  2. uwe Meilchen:

    @ A.H.: Nur so nebenbei; von lichtempfindlichen Kassenzetteln kann man Fotokopien anfertigen. Läuft !

  3. Jochen:

    Tippe auch aufs Licht.

    Ordnungssysteme korrelieren ja auch mit Entrümpelungs-, Reparatur- und Sortierungsaktionen. Those never ending projects. The lust for simplified lifestyles. The passionated clean-ups. Those powerful reset-buttons …

  4. Gregor:

    Liebe Martina, bei mir sind weder Bücher noch Platten eingeschlossen, nur Musikkassetten und die Platten, die sich in der Jukebox befinden. Im Winter 2016 schrieb ich dazu hier: „Als ich am 20.09.2011 zum ersten Mal an dieser Stelle meinen Plattenschrank öffnete, habe ich zwar erzählt, warum ich diese kleine Ecke auf der Manafonisten-Seite so benennen möchte, habe aber noch nicht verraten, dass ich gar keinen Plattenschrank im engeren Sinne besitze. Meine inzwischen ziemlich große Schallplattensammlung ist nämlich in einem ausrangiertem Schul-Post-Fach-Schrank (was für ein Wort) untergebracht. Als vor vielen Jahren der Lehrerzimmerbereich unserer Schule erneuert wurde, sollten auch die aus massivem Holz gefertigten Postfachschränke gegen Plastikeinbauten ausgetauscht werden. Ich ahnte damals, dass diese Art Schrank der ideale Aufbewahrungsort für Langspielplatten sein könnte. Probeweise nahm ich ein paar LPs mit in die Schule und – unglaublich – die Platten passten genau hinein, pro Postfach etwa 35 LPs. Um 90° gedreht, neu gestrichen, fertig war der ideale Plattenschrank

  5. Martina Weber:

    Die Lady von der Bibliotheksführung sagte, es sei das Mondlicht. Wir waren erstaunt. Sie hat es aber nicht begründet, ich vermute aber, dass es andere Gründe sind als die, die a.h. aufgeführt hat.

    @ Jochen: Yep, so ist es. Es ist erstaunlich, wie viel Kraft es kostet und wie viel Kraft welche Art von Veränderung es zurückgibt. Das Verschenken oder Wegwerfen von zwei, drei energetisch bedeutsamen Gegenständen. Das Umstellen der Lautsprecherboxen. Das Sortieren eines Stapels noch nicht sortierter Papiere, neue Rubriken, neue Pläne. Wiederentdeckungen und Umsortierungen. Und auf meinem Schreibtisch ist jetzt nur noch, was ich jeden Tag brauche. Ich kann mich auf den Schreibtisch setzen, mich an die Wand anlehnen und in die Bäume schauen.

  6. Martina Weber:

    Lieber Gregor, aber du erzählst doch unter der Rubrik „Gregor öffnet seinen Plattenschrank“ auch von Büchern. Und die befinden sich vermutlich nicht in deiner legendären Jukebox. Deshalb habe ich den Begriff des erweiterten Plattenschranks gebildet.

    Von dem Schulregal hast du auf einem der Manafonistentreffen erzählt. Ich hatte kürzlich auch die Gelegenheit, so ein Lehrerpostfachregal aufzustellen, musste es aber sofort entfernen, weil es ästhetisch nicht passte und mich völlig ausgebremst hat. Vor allem die älteren Modelle aus den 60ern haben einen großen Charme.

  7. Lajla Nizinski:

    Martina, wie schön du den alchemistischen Bibliotheksraum beschreibst.

    Wenn ich mir vorstelle, die Bücher verschwinden, weil gescannt, in den grossen Bibliotheken würden nur noch Attrappen stehen, du meine Güte, das wäre für mich ein Lebensgenussverlust.

  8. Martina Weber:

    Manchmal muss ich die Eindrücke ein paar Monate, manchmal ein paar Jahre, manchmal ein paar Jahrzehnte ruhen lassen …

    Die Bücher verschwinden bereits in den Bibliotheken. In der Deutschen Nationalbibliothek mit ihren Standorten Frankfurt und Leipzig (also die Bibliotheken, in denen per Gesetz die Pflichtexemplare abzuliefern sind), dürfen seit einigen Monaten die Bücher, die es auch als E-Books gibt, nicht mehr als gedruckte Exemplare ausgegeben werden. Sie können nur noch in der Bibliothek über die dort aufgestellten Computer gelesen werden. Das ist ein großer Verlust an haptischem Leseerlebnis. Es gibt ja große Lesesessel mit Blick aus dem Fenster in den Himmel. Hintergrund ist der – natürlich verständliche Gedanke – die Bücher zu schonen, weil sie für die Nachwelt aufbewahrt werden.


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