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Gespräch mit Angela Regius, einer der Organisatorinnen des Filmkreis Short an der TU Darmstadt über die Wirkung Eisenstein´scher Montagen und wie ein 120-Minuten Programm aus 26 Stunden Kurzfilmmaterial entsteht.

 

Martina: Kannst du dich daran erinnern, als du zum ersten Mal einen Kurzfilm gesehen hast, der dich richtig gepackt hat?

Angela: Es ist gar nicht einfach, Kurzfilme zu sehen zu bekommen, weil sie selten im Kino laufen, eher im Fernsehen, auf arte. Zum ersten Mal habe ich Kurzfilme vor einigen Jahren gesehen, bei uns im Unikino in Darmstadt. Der Studentische Filmkreis an der TU Darmstadt zeigt vor jedem Hauptfilm Kurzfilme. Ich erinnere mich an einen Kurzfilm ohne Worte, es ging um junge Leute, die in eine Wohnung eingebrochen sind, aber nicht, um etwas zu stehlen, sondern um Musik mit Alltagsgegenständen zu machen. Mir gefiel die Idee, und die Umsetzung.

Martina: Die Idee erinnert mich an den Film „Die fetten Jahre sind vorbei“, wo junge Weltverbesserer in Häuser wohlhabender Leute einbrechen und aus dem Designer-Mobiliar turmartige Gebilde bauen, um die Bewohner in einen Zustand der Unsicherheit zu versetzen… Und dann hast du dich mehr mit dem Kurzfilm beschäftigt…

Angela: Seit dem Jahr 2003 gibt es beim Studentischen Filmkreis an der TU Darmstadt einen Kurzfilmabend. Außerdem gibt es in jeder größeren Stadt Kurzfilmfestivals oder Festivals mit Kurzfilmprogramm, zum Beispiel ein Open Air Kurzfilmfestival in Darmstadt-Weiterstadt, in Frankfurt, in Wiesbaden. Diese Festivals finden nur einmal jährlich statt. Wer den Kurzfilm sucht und recherchiert, wird schnell fündig.

Martina: Schaust du auch Kurzfilme auf DVDs oder auf anderen Medien, im Internet zum Beispiel, auf youtube oder Vimeo?

Angela: Ich konzentriere mich auf die Festivals. Sie haben den Vorteil, dass ich dort Kontakt zu den Filmemachern bekomme und die Filme dort kuratiert werden. Ansonsten versinkt man bei der ganzen Auswahl, vor allem online. Zurzeit werden sehr viele Kurzfilme produziert, Smartphones und Digitalkameras erleichtern das.

Martina: Das Genre des Kurzfilms ist ja recht weit definiert. Kurzfilme können von wenigen Minuten, vielleicht nur einer Minute, bis 30 Minuten lang sein. Es gibt fließende Übergänge zum Langfilm. Das Filmförderungsgesetz hat seiner aktuellen, seit Anfang des Jahres geltenden Fassung den Begriff des Kurzfilms durch seine Dauer von bis 30 Minuten definiert und Förderprogramme eingeführt, um die Rolle des Kurzfilms als Vorfilm wieder zu stärken. Ich habe mehrere Jahre lang regelmäßig die Sendung „Kurzschluss“ auf arte verfolgt. Es gibt so erfrischend viele Ansätze und Arten von Kurzfilmen, witzige, rätselhafte, auf Pointe gemachte, es gibt Animationsfilme, sozialkritische Filme und Poesiefilme, die ein Gedicht verbildlichen, während der Text des Gedichtes gesprochen oder eingeblendet wird. Ich mochte am liebsten die Kurzfilme, die sich gegen eine Vereinnahmung gesperrt und mir eine Welt gezeigt haben, die mir unbekannt war. Bei welcher Art von Kurzfilm geht dir das Herz auf?

Angela: Im Gegensatz zu Langfilmen, bei denen fast immer einen Grundaufbau befolgt wird, hat man beim Kurzfilm viel mehr Freiheiten. Mich interessiert es am meisten, wenn mit dem Format `Film´ etwas Neues gemacht wird. Etwas herumprobieren, etwas aufnehmen und zusammenschneiden und damit experimentieren, was daraus werden kann.

Martina: Die Grenzen des Genres erweitern. Es ist übrigens ein zentraler Satz, den ich vor vielen Jahren in einem Marketingratgeber für Autoren gelesen habe.

Angela: Die Arbeit mit der Technik gehört bei der Filmarbeit dazu. Die Geschichte entsteht erst bei der Edition des Films, es kommt dabei auf Nuancen an. Kennst du die Eisenstein´schen Montagen? Dabei werden zwei Aufnahmen, die unabhängig voneinander gemacht wurde, miteinander verschnitten, so dass sie eine neue Bedeutung bekommen. Ein Beispiel wären Aufnahmen von Kinderarbeit mit Aufnahmen menschlicher Knochen.

Martina: Von dieser Technik hat Alexander Kluge in seiner Poetikvorlesung erzählt. Er sagte, durch die Kombination zweier voneinander unabhängiger Aufnahmen entstünde im Zwischenraum etwas Neues. In der Literatur nennt man das cut-up. Brian Gysin hat die Methode entwickelt, indem er eine Zeitung zerschnitten, die Teile verschoben und wieder zusammengesetzt hat. – Wie arbeitet ihr im Filmkreis Shorts?

Angela: Wir sind fünf Personen, die die Bewerbungen sichten. Einmal im Jahr präsentieren wir eine Auswahl der Filme, die uns erreicht haben. Inzwischen vergeben wir auch zwei Preise. Früher kamen die Bewerbungen von den Filmhochschulen und von lokalen Filmemachern. Inzwischen kommen die Filme von überall her, von Filmhochschulen, von unabhängigen Filmemachern und immer mehr von Agenturen, die dann die Filme vermarkten. Viele Filme kommen aus dem englischsprachigen Ausland, vor allem aus den USA und aus Großbritannien. Diese Filme müssen dann entweder deutsche oder englische Untertitel haben.

Martina: Wie werden die Filmemacher und die Agenturen auf euch aufmerksam?

Angela: Wir haben eine umfassende Facebookseite, einen Internetauftritt und man findet uns auch über Internetseiten zum Kurzfilm, zum Beispiel

 
www.shortfilm.de

www.ag-kurzfilm.de

www.niewiedershakespeare.de
 
Ansonsten spreche ich Filmemacher auch direkt an, entweder persönlich auf Festivals oder via Email.

Martina: Wie viele Einreichungen erreichen euch?

Angela: Die Zahl der eingereichten Filme ist wegen der extrem unterschiedlichen Länge der Filme nicht so aussagekräftig, eher die Gesamtlänge. Im vergangenen Jahr waren es etwa 18 Stunden Filmmaterial (100 Einreichungen). In diesem Jahr waren es 26 Stunden (140 Einreichungen).

Martina: Wie geht ihr als Vorjury bei der Auswahl vor?

Angela: Jede Person sieht alle Filme an. Etwa drei Monate lang akzeptieren wir Einreichungen, bis Ende Oktober. Wir treffen uns dann zeitnah zur Programmauswahl. Jede Person kann Filme bis zu einer bestimmten Gesamtlänge nominieren. Wir diskutieren dann über alle Filme, die auf diese Weise im Rennen sind. Wenn die Mehrheit von uns nach der Diskussion über einen Filmes gegen dessen Nominierung ist, fliegt der Film erstmal raus. So reduzieren wir die Zahl der Filme allmählich. Später arbeiten wir mit einem Punktesystem. Das wichtigste ist die Ausgewogenheit des Gesamtprogramms. Experimentalfilme, Animationsfilme, Dokumentarfilme, das alles wollen wir dabei haben.

Martina: Bei den meisten Wettbewerben fällt schon eine große Zahl von Bewerbungen beim ersten Durchsehen aus dem Stapel derjenigen, die überzeugen können. Was macht eigentlich einen schlechten Film aus?

Angela: Ein schlechter Film ist meistens einfallslos; man merkt, dass ein Film ohne Bewusstsein über das Medium gemacht wurde. Ein Beispiel wäre, dass die Kamera einfach nur irgendwo hin gestellt wird und zwei Leute einen Text aufsagen.

Martina: Ich denke gerade an „Coffee & Cigarettes“ von Jim Jarmusch, der Film besteht aus mehreren Kurzfilmen, bei denen fast immer zwei Leute reden. Ich meine mich aber zu erinnern, dass die Kamera nicht still steht. Kommt immer darauf an, wie etwas gemacht ist. Du beschäftigst dich seit etwa sechs Jahren mit dem Kurzfilm. Wie hat sich das Genre in der Zeit verändert?

Angela: Mein Eindruck ist, dass es immer mehr technisch und schauspielerisch perfekte Filme mit gradlinigem Plot gibt, die sich aber nicht so viel trauen. In den vergangenen zwei Jahren gibt es viele politische Filme, die die Flüchtlingslage aufarbeiten.

Martina: Den Eindruck, dass die Filme leichter verständlich und perfekter, aber langweiliger, sogar pädagogischer werden, hatte ich in den vergangenen Jahren auch. Was meinst du, woran liegt es? Hast du darüber mit Filmemachern auf Festivals gesprochen?

Angela: Oft werden Kurzfilme von jungen Filmemachern gedreht, um ein Portfolio für den Einstieg ins Film- oder Fernsehgeschäft aufzubauen. Da möchte man auf Festivals gespielt werden und Preise gewinnen. Sobald etwas aneckt, wird das schwierig. Ich merke das auch bei uns: Fünf Personen, fünf Meinungen. Bis wir ein Programm, mit dem alle einverstanden sind, zusammengestellt haben, fällt einiges heraus. Das ist natürlich eine spannende Aufgabe, der wir uns sehr gerne und mit viel Verantwortungsbewusstsein widmen. So ist auch wieder das Programm für dieses Jahr entstanden, das viele verschiedenen Seiten des Kurzfilms zeigt.

Martina: Danke, Angela, dass du dir die Zeit für unser Gespräch genommen hast.

Angela: Danke ebenso, auch für den Tee.

Martina: Bis Samstag dann.
 
 

3. Filmkreis Shorts Kurzfilmwettbewerb, Samstag, 21. Januar 2017, 19.00 Uhr, Audimax Universität Darmstadt

Weitere Informationen: www.filmkreis.de/shorts

Es werden dreizehn Kurzfilme mit einer Gesamtdauer von 120 Minuten gezeigt. Vergeben werden ein Jurypreis und ein Publikumspreis.

 

Liste der Filme, die am 21.01. vorgeführt werden:

 

Last Call Lenny
Ein Sommertag
doors of perception
ANNA
Maman und das Meer
Monsterfilm
Blight
All the World is a Stage
Die Blaue Sophia
The Alan Dimension
Hausarrest
Über Druck
Our Wonderful Nature – The Common Chamaeleon

 
 
 

 

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13 Comments

  1. Jan Reetze:

    Ich glaube, der Kurzfilm leidet bis heute unter dem Rückschlag, dass die Kinos keine „Vorfilme“ mehr zeigen, wie sie in den 60ern und 70ern genannt wurden – auch wenn die mich damals eher genervt haben, manchmal waren aber doch interessante Entdeckungen zu machen. Heute wüsste ich nicht mehr, wo Kurzfilme noch gezeigt werden, ausser auf irgendeinem Festival im Bayerischen Wald, zu dem man nur fährt, wenn man beruflich damit zu tun hat.

    Interessant finde ich, dass man mit etwas kantigeren Filmen auf Festivals „aneckt“. Früher war gerade das die Spielwiese, auf der Ideen entwickelt und ausgearbeitet wurden.

  2. Martina Weber:

    Die in diesem Jahr in Kraft getretene Neufassung des Filmförderungsgesetzes sieht wieder eine Stärkung des Kurzfilms vor. Und wie geht man bei der Auswahl vor, also bei der Frage, welche der zahlreichen Kurzfilme als Vorfilme zugelassen werden?

    Hier gibt´s eine Antwort …

    Und so lautet sie:

    „Kurzfilme werden bei der FFA nach einem Referenzpunktesystem gefördert. Teilnahmeberechtigt sind Filme mit einer Vorführdauer bis maximal 30 Minuten sowie Kinderfilme bis zu 58 Minuten, die Erfolge bei Festivals und renommierten Kurzfilmpreisen vorweisen können.“

    Filmförderungsgesetz (FFG): §§ 91 – 99 FFG

    Wichtigste Voraussetzung für die FFA-Kurzfilmförderung ist, dass der Film neben der Bescheinigung der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) mindestens 15 Referenzpunkte erreicht hat. Die Referenzpunktzahl wird aus Preisen und dem Erfolg bei international und national bedeutsamen Festivals ermittelt. Weitere Referenzpunkte ergeben sich durch eine Auszeichnung mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW), dem Deutschen Kurzfilmpreis, dem Friedrich-Wilhelm-Murnau-Kurzfilmpreis oder dem FFA-Kurzfilmpreis „Short Tiger“. Es werden nur solche Erfolge berücksichtigt, die innerhalb von zwei Jahren nach Fertigstellung des Films erreicht wurden. Die Höhe der Förderung ist abhängig von der Anzahl der teilnehmenden Filme und des jährlich zur Verfügung stehenden Budgets. Für die Antragsstellung sind außerdem eine BAFA-Bescheinigung und die Bestätigung über die Einlagerung im Bundesarchiv erforderlich.

    Antragsberechtigt ist der Hersteller des Kurzfilms. Die Förderungen werden einmal jährlich, spätestens Ende März, zuerkannt. Die Fördermittel können für die Entwicklung und Produktion eines Kurz- oder Langfilms genutzt werden.

  3. Martina Weber:

    Und welche Filme sind „besonders wertvoll“?

    Das sind allzu oft pädagogische Filme mit einer „message“,die sich sehr gut für den Sozialkunde-, Religons- oder Ethikunterricht eignen. Wegen dieser Filme habe ich, nachdem ich mich mehrere Jahre jede Woche mit Kurzfilmen beschäftigt habe, vor ein paar Jahren damit aufgehört, Kurzfilme zu schauen. Ich habe Kurzfilme gesehen, bei denen ich die ganze Zeit dachte, der Filmemacher oder die Filmemacherin möchte, dass ich auf eine ganz bestimmte Art auf den Film reagiere. Ich habe aber überhaupt keine Lust auf solche Filme. Ich mag lieber Filme, die mich verstören, die mich mit etwas konfrontieren, über das ich so noch nicht nachgedacht habe, Filme, die mich überraschen, in denen plötzlich ein weißes Pferd beim Hafen herumläuft, Filme, die jubeln, schreien oder wütend sind. Aber bitte nicht brav.

    Anscheinend werden genau diese braven Kurzfilme gefördert, denn nur sie sind „besonders wertvoll“. Und diese Filme können wir dann im Kino als Vorfilm sehen. Die Filmemacher passen sich an, damit sie Gelder erhalten für weitere Filme und eine Karriere aufbauen können.

  4. Martina Weber:

    Ich könnte hier ein Shelfie meines Kurzfilmregals einfügen, aber es wäre langweilig. Es bestünde hauptsächlich aus 12 VHS Kassetten zu je 240 Minuten mit Zusammenschnitten der aus meiner Sicht besten Kurzfilmen aus der arte-Sendung „Kurzschluss / court circuit“ aus den Jahren, hm, vielleicht 2009 bis 2014, beschriftet mit „Kurzfilm 1“ bis „Kurzfilm 12“. Ich habe eine Auswahl dieser Filme bei einer privaten Film-AG als Vorfilm eingesetzt.

    Kurzfilme laufen auf arte zurzeit jede Woche eine knappe Stunde in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch gegen Mitternacht (keine feste Sendezeit.) Kurzfilme der vergangenen Monate können über folgenden Link aufgerufen werden:

    cinema.arte.tv / magazin / kurzschluss / sendungen …

    Es gibt auch DVDs mit Kurzfilmklassikern, zum Beispiel die Reihe „Cinema 16“ mit „World Short Films“, „American Short Films“ und „European Short Films“.

  5. Ingo J. Biermann:

    Aus eigener Erfahrung als (ehemaliger) Filmstudent und Kurzfilmer kann ich die hier dargestellten Kritikpunkte absolut nachvollziehen und bestätigen. Die Probleme bleiben allerdings auch im Langfilmbereich, zumindest jetzt aus „Macher-Sicht“ gesprochen: Also dass bestimmte Dinge sehr viel eher gefördert werden (Stichwort historische Deutschlandfilme mit Bildbandästhetik), und die Vorbehalte empfinden längst auch nicht geringe Teile des Publikums, wie Maria Schraders „anderer“ Historienfilm „Vor der Morgenröte“ zeigt (In der ZEIT, glaube ich, war unlängst ein entsprechender Entstehungsbericht). Und Stichwort „besonders wertvoll“ (pädagogische Filme mit einer „message“,die sich sehr gut für den Sozialkunde-, Religons- oder Ethikunterricht eignen): Die Förderer und Redakteure wie auch viele Festival-Auswahljuroren sind sehr häufig keine Menschen mit filmpraktischer Erfahrung, häufig kommen sie sogar aus ganz anderen Berufsfeldern und sind daher, was Filmsprache und Filmästhetik betrifft, wenig abenteuerlustig. Ich kann das ebenso als Filmschauer wie als Filmemacher mit hunderter erfolgloser Festivaleinreichungen wie auch als Antragsteller um Fördergelder bestätigen. Leider. Und wie der Austausch mit Kollegen zeigt, bin ich mit diesem Blick nicht allein; es ist ein häufiges Thema.

    Die von dir, Martina, geäußerten kritischen Beobachtungen und auch die Anmerkung, dass man mit kantigeren Filmen eher „aneckt“, sind meines Erachtens tatsächlich nicht unbedingt bei den Filmemachern selbst festzustellen, sondern z.T. im System (Produzenten bekommen für weniger aneckende Filme einfacher und mehr Geld) als auch im Geschmack derer, die das System mit der Hand am Geld am Laufen halten. Ich erspare mir Beispiele, mein Kommentar würde uferlos… Ich war bei einigen Diskussionsrunden als Zuhörer zu Gast, wo alle zu dem Schluss kommen, dass die Art, wie das Filmfördersystem in Deutschland derzeit gehandhabt wird, Vorteile für wenige Konservative bringt, aber für den Zweck, für den es ursprünglich eingeführt wurde, vor 40-50 Jahren, nämlich als explizite Kultur- und nicht als Wirtschaftsförderung, gegenwärtig allzu oft vom Gleis abgekommen ist.

  6. Ingo J. Biermann:

    Aus einem Rückblick aufs Cannes-Festival:

    Die vielen Highlights, die wenigen Lowlights, die paar Ärgernisse, sie haben fast alle eins gemeinsam: Es sind Filme, die in einer riesigen Abhängigkeit vom – manchmal meisterhaften – Drehbuch stehen.

    Im offiziellen Programm – Wettbewerb und Un Certain Regard zusammengezählt – habe ich in diesem Jahr nur einen Film gesehen, der sich von einer solchen dramaturgischen Logik löste, das war „The Neon Demon“ von Nicolas Winding Refn. Weit und breit kein tranceartiges Erlebnis wie im letzten Jahr bei Apichatpong Weerasethakuls „Cemetery of Splendour“, das nicht auf Genreelemente angewiesen wäre wie NWR. Nichts gegen Genre, es ist aber auffällig, dass das Kino, das Cannes feiert, eines ist, das sich über immer mindestens eine Bezugsebene absichert. (…) Weit und breit auch kein formal abenteuerliches Werk wie Miguel Gomes’ „Arabian Nights“, weit und breit kein Film, der seine Geschichte in die Atmosphäre faltet wie Corneliu Porumboius „The Treasure“. Alles Beispiele, die in Cannes im letzten Jahr in Nebenreihen liefen und gerade nicht im Wettbewerb. Der Marginalisierung solcher Werke in den vergangenen Jahren folgte 2016 deren Abwesenheit. Das kann natürliche zyklische Gründe haben. Denn herausragende Filme, die die Grenzen des Mediums ertasten oder auch nur ästhetische Prinzipien über narrative stellen, sind selten. Andererseits kann man sie doch zum Beispiel sehr verlässlich in einem jeden Jahr beim Festival von Locarno entdecken.

    Seit Jahren hält sich hartnäckig das Gerücht, dass Thierry Frémaux sehr unglücklich über die Goldene Palme für Weerasethakuls „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ (2010) war. Ein Film, der es schwer hatte im Kino, schon wegen seiner langsamen Erzählweise und der Bezüge auf transzendentale Erfahrungen, besonders aber aufgrund seiner Loslösung von narrativer Dichte und Kohärenz. Wenn ein solcher Film gewinnt, schadet das dann dem Festival? Weil das Werk kein guter Botschafter für die Zugänglichkeit ist, für das „Cross-Over-Potenzial“, wie man in der Branche sagt? Das Argument geht nicht spurlos an mir vorbei, ich meine, es entbehrt nicht einer gewissen Logik. Nur darf das doch kein Grund sein, ein Festival gegen solche offenen Formen abzuschotten.

    Frédéric Jaeger: critic.de / die-grenzen-des-autorenkinos …

  7. Ingo J. Biermann:

    Falls jemand Lust hat, vier sehr unterschiedliche Kurzfilme aus meiner Laufbahn zu sehen:

    „Geliebte“, eine Produktion für ARTE (2008/09), 5 Minuten, Prädikat „besonders wertvoll“ ;-)

    ein kurzer, anarchischer Film über das Radialsystem in Berlin, für eine Ausstellung über Architektur (über Kulturgebäude), 4 MIn. (2014)

    „Normannenstraße“ (2011), ein persönlicher Dokumentarfilm über DDR, deutsche Geschichte und Familie (14 Min).

    Und eine Art Science-Fiction-Dokumentarfilm über das Kunsthaus Graz (2013, Langfassung, 10 Min.): „The Astronaut´s Arc“.

  8. Michael Engelbrecht:

    Es wird immer spannender hier, mit den ganzen Kreuz- und Querverbindungen …

  9. Martina Weber:

    Habe mir alle deine Filme angesehen, Ingo. Sie sind tatsächlich sehr unterschiedlich, aber immer originell im Ansatz. Mich hat die „Normannenstraße“ am meisten berührt. Ich mochte den Monolog, all die Rätsel, mit denen Kinder zurückbleiben, wenn sie Wohnungen räumen. Die Dias, an die Fliesen im Bad projiziert. Manchmal denke ich an eine Szene in MAD MEN, in der Draper seine Tochter Sally zu einem Bahnhof oder Bus bringt und Sally sagt, dass sie nichts mehr mit ihren Eltern zu tun haben will. Da wird Draper fast aggressiv, er sagt ihr zum Abschied, dass sie vor ihrer Familie nicht fliehen kann, dass sie irgendwann feststellen wird, wie viel sie davon in sich trägt.

  10. Martina Weber:

    Noch ein Gedanke zur „Normannenstraße“: Ein zusätzliches Element der Verfremdung / Irritation entsteht dadurch, dass die monologisierende Stimme von einem Jungen stammt. Die Person, die durch die Wohnung geht, ist jedoch eine Frau. Sie macht den Eindruck, als ob sie die Wohnung zum ersten Mal und mit großer Sorgsamkeit betritt. Der Film wirkt stark nach, beschäftigt mich.

  11. ijb:

    Danke für die persönliche Rückmeldung. Ich kann dir (bzw. euch) gerne auch DVDs von längeren Filmen aus meiner bisherigen Laufbahn schicken, wenn Interesse besteht (und ich eine Adresse/n bekomme) …

    Über den Film „Normannenstraße“ wurde zwar schon mit unterschiedlichsten Leuten gesprochen, aber die Idee des Verfremdungseffekts durch eine fremde Stimme ist bisher noch nicht aufgekommen – und überrascht mich.

    Also, nein, nein, die Erzählstimme ist schon die der realen Frau im Bild, ihre echte Familien- und Kindheitsgeschichte. Wir wollten aber für die visuelle, filmische Ebene eine eher assoziative und „distanzierende“ Form.

    Das ganze entstand im Rahmen eines Workshops mit zwei visuellen Künstlern, die in erste Linie mit erzählerischen Film- und Videoinstallationen arbeiten („Expanded Cinema“), Nina Fischer und Maroan El Sani. Die machen sehr gute Sachen und sind seither auch Freunde von uns, leben jetzt sogar nur 200 Meter von uns entfernt in der Nebenstraße.

  12. Martina Weber:

    Ich habe mir die Stimme nochmal angehört. Ich weiß nicht mehr, warum ich sie für die Stimme eines Jungen gehalten habe. Ich finde zwar, dass die Stimme etwas jungenhaftes hat, vielleicht lag es auch an Bildern oder anderen Elementen aus dem Film, aber jetzt erkenne ich sie als die Stimme einer Frau.

    Längere Filme von dir würde ich mir sehr gern ansehen, Ingo. Deine Filme sind sehr poetisch. Ich habe dir eine Mail geschrieben.

  13. Martina Weber:

    Der Kurzfilmabend im Audimax der TU Darmstadt hat meine Begeisterung für den Kurzfilm wieder aufflammen lassen.

    And the winner is: Den Jurypreis hat der Film „Hausarrest“ erhalten. Eine Produktion aus der Schweiz. Ein Mann ca. Mitte 50, der in wohlhabenden Verhältnissen lebt, in eigenem Haus mit Garten und Sauna, gemeinsam mit seiner Frau oder Freundin, hat aus Gründen, die unbekannt bleiben, vermutlich hat er eine Straftat begangen, eine elektronische Fußfessel um das rechte Fußgelenk, die einen kleinen Computer enthält und mit dem Mann kommuniziert.

    Es gab drei Publikumspreise, wobei der Film „Maman und das Meer“ am deutlichsten vorne war. Ein Mann ca. Ende 20, der bei seiner Mutter lebt, geht einkaufen und nimmt eine große Plastiktüte mit. Seine Mutter schärft ihm ein, auf jeden Fall die Tüte wieder mitzubringen. Plastiktüten landen sonst im Meer und werden von Fischen gefressen, die deshalb sterben. Nun, damit ist die Spannungskurve schon da. Was mit der Tüte passiert und ob der Mann sie wieder mit nach Hause bringt, verrate ich aber nicht. Der Charme des Hauptdarstellers und des Filmemachers, die für ein Gespräch angereist sind, hat sicherlich zu dem Erfolg beigetragen, war aber sicherlich nicht maßgeblich für den Preis.


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