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2016 18 Sep

Gregor öffnet seinen Bücherschrank

von: Gregor Mundt Filed under: Blog | TB | 6 Comments

Herman Melville: Moby-Dick
 

Schon öfter habe ich meine Schüler mit der Erzählung Bartleby von Herman Melville (1856) verblüfft, eine Geschichte von einem Totalverweigerer. Sein andauerndes I would prefer not to … ( „Ich möchte lieber nicht …“ ) provoziert scheinbar dermaßen, dass es meinerseits ein rechtes Vergnügen ist zu erleben, was 150 Jahre alte Literatur noch alles vermag. Ein wunderbares Büchlein, welches in den verschiedensten Ausgaben erhältlich ist, die schönste ist sicher die 2005 in Steidl-Verlag erschienene und mit einem Nachwort von Wilhelm Genazino versehene Ausgabe.

 
 
 

 
 
 

Die 1954 entstandene, unter der Regie von John Huston beeindruckend in Szene gesetzte Verfilmung des Romans Moby Dick (von Melville 1851 veröffentlicht) – in der Hauptrolle des fanatischen Kapitän Ahab übrigens Gregory Peck – hat mich immer wieder dazu angeregt, doch endlich einmal dieses Hauptwerk Melvilles zu lesen. Im gerade zu Ende gehenden Sommer war es dann soweit. Die Ausgabe in der Neuübersetzung von Mathias Jendis schien mir die geeignetste, um das Werk anzugehen. Ich wurde nicht enttäuscht, die Übersetzung ist großartig. Die 1041 Seiten umfassende Dünndruckausgabe enthält neben dem eigentlichen Romantext (866 Seiten) ein Glossar ausgewählter nautischer Begriffe, fast 100 Seiten Anmerkungen, darin enthalten: kultur- und literarhistorische Anmerkungen zum Romantext, Zitate aus Melvilles Briefen, Tagebüchern und Bezüge zu seinen anderen Werken; es findet sich auch eine ausführliche Zeittafel zur Biographie Melvilles. Das Buch umfasst 135 Kapitel und, wer nun auf Grund der Kenntnis der Verfilmung des Buches glaubt, ein Abenteuerschmöker lesen zu können, wird recht bald eines besseren belehrt. Bevor unser Walfangschiff ablegt, vergehen schon einmal fast 200 Seiten.

 
 
 

 
 
 

Aus der Sicht des Matrosen Ismael erfahren wir zunächst einmal alles über das Gasthaus „Zum Walfänger“, über den unheimlichen Zimmergenossen Ismaels, den Harpunier Queequeg, das Frühstück, den Abschiedsgottesdienst – die komplette Predigt wird dem Leser präsentiert -, das Anheuern auf der Pequod, natürlich ausführliche Beschreibungen des Walfängers und Personenbeschreibungen in einer Breite, wie ich sie ansatzweise schon in dem oben genannten Büchlein Bartleby gelesen habe. Oft musste ich während des Lesens an das Buch Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman (1759-1767) von Laurence Sterne denken, auch hier will und will ja die Handlung nicht weitergehen und der Leser denkt: „Hallo, was passiert hier eigentlich?“

Es passiert wirklich nicht viel, jedenfalls solange nicht, bis es dann am Ende des Romans, ab S. 824 zur Jagd auf Moby Dick kommt. Aber, was lernt der Leser nicht alles in diesem Meisterwerk über den Walfang in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, über Wale überhaupt, die unterschiedlichen Unterordnungen des Wales, seine Lebensart, seine Anatomie, seine Farbe – unglaublich etwa die 13 Seiten über das Weiß des Wals und die „Farbe Weiß“ als solche – seine Verarbeitung, über Tranöfen, Lampenöl, über Festfisch und Losfisch, Theologie und Philosophie, Exkurse über Exkurse. Und doch, das Buch fesselt, die Sprache begeistert, was für ein tolles Buch! Herman Melville starb 1891, den Erfolg seines Buches Moby-Dick konnte er nicht mehr erleben …

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6 Comments

  1. Lisi:

    Ich liebe Bartleby!

  2. Michael Engelbrecht:

    Ich glaube, mit 17, 18 oder 19 wollte ich MOBY DICK lesen, und besorgte mir eine ungekürzte Ausgabe. Es begann grossartig (für mein jüngeres Ich) mit der Begegnung mit dem „Kannibalen“ am Kaminfeuer, aber irgendwann verlor ich den Faden – diese unendlichen Beschreibungen langweilten mich, hatte ich doch einen grossen Abenteuerroman erwartet.

    Bin nicht sicher, ob sich heute mein älteres Ich – with all due respect – für diesen Klassiker begeistern könnte. Meine dicken Schmöker von damals, welche gleichfalls als Klassiker betrachtet werden, hatten weitaus mehr „action“ zu bieten, von Mark Twain über Miguel de Cervantes Saavedra bis zu E.A.Poe!

  3. Martina Weber:

    Ich habe vor einer Weile „Bartleby“ im Fernsehen gesehen, das war sogar Zufall und schwarzweiß. Die Totalverweigerung, passiver Widerstand etc. steht ja in einer großen Tradition. Bei aller Erziehung zum Bravsein und Funktionieren wundert es mich nicht, dass Jugendliche das Thema neu entdecken. „Bartleby“ ist für meinen Geschmack schon zu geradlinig erzählt, ich mag es lieber fragmentarisch und etwas konfuser, Spuren verwischend. Und ich würde jeder Bartleby-Lektüre das lange Gespräch von Georges Belmont mit Henry Miller vorziehen, zu dem ich hier auf dem Blog auch schonmal einen Eintrag gemacht habe. „Meine Jugend hat spät begonnen“. Es steckt so viel Weisheit in diesem Buch, und wir lernen einen ganz anderen Henry Miller kennen als den, den wir zu kennen meinen. Und die Verweigerung ist ein großes Thema.

  4. Martina Weber:

    Und das Loslassen! Hier ein Zitat von Henry Miller aus dem genannten Buch:

    Ich sage oft – und die Franzosen hören das nicht gern und die Deutschen noch weniger -: „Wenn man aufgibt, wenn man´s einfach laufen läßt, dann geschieht das Wunder.“ Darin liegt das Geheimnis: daß man aufzugeben weiß. Doch das ist notwendig.

  5. Jan W.:

    Bartleby ist ein besonderer Mensch. Und besondere Literatur. Wie oft habe ich es schon gelesen! Mir fallen, wenn ich an Bartleby denke, die am Ufer aufs Wasser blickenden Büromenschen ein, die Ishmael zu Beginn von „Moby Dick“ in ihren eigenen Momenten der seligen Flaute beschreibt:

    „Wie stumme Schildwachen rund um die Stadt gestellt, stehen Tausende und aber Tausende von Menschen und hängen ihrem Traum vom Meere nach.“

    Dieses Nachhängen nach einem Sehnsuchtsort, nach einem anderen Leben, nach einer neuen Richtung fürs Dasein – das ist es, was Bartlebys Langsamkeit und seine Ruhe bedeuten und auslösen, durchaus auch im Kopf der Leser.

  6. S. Hannah:

    Hello Gregor,
     
    Oh me, oh my! Bartlebly is a flawless and ambiguous work of art – good-ambiguous, not why-hasn’t-it-got-a-proper-ending?-ambiguous. As the story progresses, the reader follows the narrator in becoming increasingly mystified and fascinated by the evasive protagonist.

    I first read this puzzling novella 23 years ago, and am as gripped now as then. Unlike other mysteries that I have long since forgotten, I will never give up on my attempts to decode Bartleby. I find him endlessly compelling. What’s going on in his mind? Something? Nothing? Should we see him as a real person or as a symbol? If the latter, then a symbol of what?

    I used to believe that Bartleby was an allegory that demonstrated the impossibility of being true to oneself at the same time as complying with social convention. I have come to feel, though, that it’s the narrator who holds the key to the book’s meaning. While everyone else in the office resents, avoids or gives up on Bartleby, his boss tries to help him.

    Through the narrator’s eyes we see Bartleby not as a nightmare employee, but as a man who has hurt no one, insulted no one, attacked no one. Bartleby, blank in character, tests the characters of others – and most fail. Only the narrator retains his compassion in the face of the inexplicable, while others vilify, sneering at the weird outsider.

    Bartleby is pure enigma. Thanks to Bartleby the Scrivener, I often allow myself to think „I would prefer not to“. Sometimes I even allow myself to say it out loud.
     
    With kind regards,

    Sophie H.


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