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2015 1 Okt

Gregor öffnet seinen Plattenschrank (100)

von: Gregor Mundt Filed under: Blog | TB | 5 Comments

Der hundertste Plattenschrank … Keine Frage, über wen und über welches Werk da geschrieben werden muss. Der Komponist, der Musiker, der für mich über allem schwebt und nach dem lange niemand anderer kommt. Kennengelernt 1973 im Herbst, erstes Semester: als Orgelnachspiel ertönt nach einem Gottesdienst Musik eines Komponisten, von dem ich bis dahin nie gehört habe: Olivier Messiaen. Wie entgeistert erklimme ich die Empore und frage den Organisten nach dieser unerhörten und nie gehörten Musik. Es entwickelt sich eine kurze, aber intensive musikalische Freundschaft. Ich darf während seiner Orgelkonzerte die Register der Orgel bedienen, die Noten umblättern und lerne dabei ungeheuer viel über diese mir gänzlich neue Musik. Ich entsinne mich an eine wunderbare Orgelnacht. Ich wollte unbedingt La Nativité du Seigneur als Bandaufnahme haben. Also trafen wir uns nach Mitternacht, zur nächtlichen Ruhestunde in der riesigen Kirche. Im Altarraum baute ich mein Uher-Variacord auf, brachte meine extra für diesen Anlass gekauften sündteuren Mikrophone in Stellung und schaltete alles ein, kletterte auf die Empore und dann wurden die 9 Mediationen aus dem Jahre 1935 so hinreißend gespielt, dass ich noch heute meine helle Freude an diesen Aufnahmen habe.

In den letzten gut 40 Jahren habe ich wahrscheinlich die meisten Werke von Messiaen gehört, wobei mir die Orgelmusik besonders gefällt. Einer meiner größten Plattenschätze dürfte wohl die dicke Messiaen-Orgel-Box sein, Einspielungen seiner wichtigesten Orgelwerke von Almuth Rössler. Natürlich befinden sich auch Aufnahmen des Meisters selber in meinem Plattenschrank. Neben den Orgelwerken begeistern mich aber durchaus auch Messiaens Klavier- und Orchsterwerke. Unter seinen Werken, die mich neben den Orgelwerken vor allem begeistern findet sich eine Komposition, die Messiaen in der Gefangenschaft, im Lager Stalag VIII-Görlitz unter widrigsten Umständen geschrieben und mit Gefangenen und vor Gefangenen am 15. Januar 1941 uraufgeführt hat: Quatuor Pour La Fin Du Temps, das Quartett für das Ende der Zeit, mit Olivier Messiaen am Klavier, Etienne Pasquier (Cello), Jean Le Boulaire (Violine) und Henri Akoka (Klarinette).

 
 
 

 
 
 

Ein unglaubliches Stück Musik, dessen Entstehungsgeschichte und musikalischer Hintergrund niemand besser dargestellt hat als Richard Powers in seinem jüngsten Buch Orfeo (Frankfurt 2014), ein Buch, das ich an dieser Stelle unbedingt empfehlen möchte. Ein ganz großer Roman, in dem Musik im Mittelpunkt steht. Unter anderem erzählt Powers von den Umständen der Entstehung der Komposition von Quatuor Pour La Fin Du Temps (Orfeo S.147-S.164). Über die Uraufführung im Lager am 15.Januar 1941 schreibt er u.a.:

Musik schwebt zwischen den dichtgepackten Reihen, durch die im Schnee versunkene Baracke, über die letzte Windung des Stacheldrahtes, der dieses Lager abschließt, hinaus. Der Satz ist zu Ende, Husten überall. Vor Kälte steife Zuhörer regen sich auf den Bänken, dann beginnt der dritte Satz. Dies ist eine Neufassung der Fantasie für Soloklarinette, die Akoka auf jenem freien Feld bei Nancy vom Blatt gespielt hatte, vor so langer Zeit. Der Abgrund der Vögel. „Der Abgrund ist die Zeit“, erklärt Messiaen, „mit ihrer Düsternis und Erschöpfung. Die Vögel sind das Gegenteil von Zeit. Sie sind unsere Sehnsucht nach Licht, nach Sternen, nach Regenbogen und nach jauchzenden Liedern.“ (Orfeo S.158).

Powers widmet aber nicht nur Messiaen viele Seiten, auch der Entstehung der Kindertotenlieder von Gustav Mahler (Orfeo S.49-S.59), der vierten und fünften Symphonie von Schostakowitsch (S.373ff), oder dem Werk von John Cage.

Aufnahmen gibt es von Messiaens Quatuor pour la fin du temps natürlich sehr viele, in meinem Plattenschrank befindet sich ein ziemlich alte Aufnahme aus dem Jahre 1979, die mir aber sehr, sehr gut gefällt: Danie Barenboim (Piano), Luben Yordanoff (Violine), Albert Tetard (Cello) und Claude Desurmont (Klarinette).

 
 
 

 
 
 

Abschließend möchte ich noch einmal Messiaen zitieren: „Wenn sich überhaupt ein Grund dafür benennen lässt, dass ich dieses Quartett komponiert habe, dann war es, weil ich dem Schnee entkommen wollte, dem Krieg, der Gefangenschaft, mir selbst entkommen. Der größte Gewinn daran war für mich, dass ich unter dreihunderttausend Gefangenen vielleicht der einzige war, der nicht gefangen war.“ Und über den Abend im Januar 1941 schreibt Messiaen: „Nie wieder hat jemand eins meiner Werke mit solcher Aufmerksamkeit gehört.“ (zitiert nach Richard Powers: Orfeo S.163f)

 
 

Und hier noch ein paar wenige Plattentipps, Messiaen betreffend:

 

Olivier Messiaen: Orgelwerke, Messiaen spielt an der Orgel Sainte-Trinité (1957)

Olivier Messiaen: Das Orgelwerk – Gesamtausgabe Almuth Rößler (1973)

Olivier Messiaen: Livre du Saint Sacrement Almuth Rößler ( Ursina 2002)

Olivier Messiaen: Visions de I´Amen Alexandre Rabinovitch & Martha Argerich
(EMI 1990)

Olivier Messiaen: Concert Á Quatre: Yvonne Loriod, Mstislav Rostropovich, Catherine Cantin & Heinz Holliger (Deutsche Grammophon 1995)

Olivier Messiaen: Mediations Sur Le Mystére De La Sainte Trinite Christopher Bowers-Broadbent (ECM 1995)

Olivier Messiaen: Préludes pour Piano Alexander Lonquich (ECM 2004)

Olivier Messiaen: Quatuor pour la fin du temps u.a. mit Olivier Messiaen (Deutsche Grammophon 1979)

 

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5 Comments

  1. Jan Reetze:

    Der „Quatour pour la fin du temps“-Empfehlung kann ich mich nur anschließen.

    Ergänzen würde ich vielleicht noch „Oraison“, ein sehr in sich gekehrtes Werk von 1937 für drei Ondes Martenots, eines der frühesten Werke für ausschließlich elektronische Klänge überhaupt.

    Und natürlich die Turangalîla-Sinfonie. Die DG-Einspielung mit Yvonne und Jeanne Loriod und dem Orchestre de la Bastille unter Myung-Whun Chung 1991 ist nicht die beste, die ich kenne, aber Messiaen war bei der Aufnahme anwesend und hat sie autorisiert.

    2007 habe ich die Sinfonie in der Heinz Hall mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra unter Andrew Davis gehört (mit Jean Laurendeau, Ondes Martenot und Marc-André Hamelin, Piano) – die haben das Stück sozusagen mit permanent voll durchgetretenem Gaspedal gespielt. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich nach einem Sinfoniekonzert ein Pfeifen auf den Ohren hatte.

    Zu Messiaens Schülern gehörte übrigens Karlheinz Stockhausen, und in seinen frühen Werken ist das nicht zu überhören.

  2. Gregor:

    Danke für die Tipps, Jan. Hier noch einer von mir. In meinem `Plattenschrank´ war ja schon von Visions de I´Amen die Rede. Deutschlandradio hat dieses Werk mit dem genialen Duo Andreas Grau und Götz Schumacher aufgenommen und 2005 als CD herausgegeben. Sehr zu empfehlen.

  3. Hans-Dieter Klinger:

    Was für eine Wahl für den hundertsten Plattenschrank!

    Ich kann Messiaens Musik, ihren Rang , ihre Bedeutung nicht in angemessene Worte fassen. Das würde unendlich farblos wirken.

    Meine erste Messiaen-LP war das „Livre d’Orgue“, aufgenommen im Mai 1969 mit Almut Rößler an der Rieger-Orgel der Neanderkirche zu Düsseldorf. Danach besorgte ich mir eine Einspielung der „Turangalîla-Sinfonie“. Dieses Werk live zu hören, muss etwas ganz Besonderes sein. Ich würde das gerne erleben. Der Aufwand ist immens, weshalb die Symphonie nur relativ selten aufgeführt wird.

    Messiaen ist von einer ungewöhnlichen geistigen Weite und Tiefe.

    In seinem neuhumanistisch orientierten Schaffen strebt er eine Synthese von katholischer Mystik, metaphysischer Spekulation und realistischer Weltoffenheit an. Spiritualität und Naturalismus erscheinen zur Einheit verschmolzen

    (zitiert nach Peter Hollfelder, Handbuch der Klaviermusik)

    In seiner Kompositionstechnik verarbeitet er Einflüsse und Reminiszensen mittelalterlicher Isorhythmie, Besonderheiten asiatischer, vor allem indischer und balinesischer Musikkulturen. Eine stilistische Besonderheit ist die Einbeziehung von Vogelgesängen in die Melodik seiner Werke. John Cage war ein ausgezeichneter Pilzkenner, Olivier Messiaen ein kenntnisreicher Ornithologe.

  4. Hans-Dieter Klinger:

    Nachtrag:

    Ein deutscher Jazzpianist, der sehr von Messiaens unverwechselbarer Harmonik beeinflusst ist, ist Hubert Nuss.

    Empfehlenswert ist das Album The Shimmering Colours of the Stained Glass.

  5. radiohoerer:

    Hallo zusammen !

    Gratulation Gregor … ich bin auf das beste überrascht !

    Alles Messiaenistas !

    Find ich sehr gut und auch ich oute mich als Messiaen Fan.
    Nächstes Jahr jährt sich ja sein Todestag zum 25.mal und da
    erwarte ich vieles. Danke für die Hörtipps.
    „Quatuor pour la fin du temps“ darf man ja schon als Pflicht betrachten …

    Beste Grüße.


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