Manafonistas

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2014 5 Dez

Keine falschen Seligkeiten (Hype, Liebesromane und Jazz)

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | Comments off

Das Jahr ist fast ausgezählt, die Rückblicke (an denen wir uns ja auch beteiligen) können leicht schwindelig machen, aber auch schwindeln, und gerne, wenn Zeitgeister und Trendverwerter etwas herumposaunen, gediegene Ware als Hochkunst andienen – jeder mag für sich den Hype des Jahres benennen und in die Mülltonne stopfen. Die Mutter aller Hypes: Pink Floyd und „The Endless River“. Dass ausgerechnet ein ansonsten hellwacher politischer Musiker wie Gilad Atzmon zu diesem Schund das verzuckertste Saxofonsolo seit der Erfindung von Kenny G beisteuert, ist eine kleine traurige Pointe.

Die SZ verkündet heute nicht nur, dass die Liebe „eine Himmelsmacht“ sei, sondern bietet auch im nächsten Zeilensprung „fünf grosse Liebesromane der Weltliteratur“ an. Da ist die nächste Beweihräucherung rasch ausfindig zu machen, wenn „Tante Julia und der Schreibkünstler“ (immerhin das Opus eines peruanischen Nobelpreisträgers) zu diesen hochgehandelten E-Books gerechnet wird: die Erotik, die einem hier aus den Seiten entgegen springt, ist ungefähr so sinnlich wie ein Gartenzwerg aus Porzellan, und nervtötend manieristisch. Als Gegenmittel sei „Naked Lunch“ von William Burroughs empfohlen.

Und in den Jazzpreisungen ist der Blick zurück auch ein wenig verräterisch: denn was für ein Wirbel wird veranstaltet um den Auftritt von Keith Jarretts Trio im Hamburg des Jahres 1972 – und das völlig zu Recht. Das war mal ein „goldenes Jahrzehnt“, das dieses Etikett verdient. Ansonsten gibt es im Jazz für jeden die eine und andere Lieblingsplatte. Werthaltig allemal, Zeitschleifen inklusive. Wenn man einem online-Magazin wie allaboutjazz glaubt, erscheinen pro Jahr immer noch unendlich viele Meisterwerke, mit denen man den Hindenburgdamm zwischen dem Festland und Sylt pflastern könnte, aber das ist leider Kokolores. Das Virtuose ist Alltag im Jazz, das Besondere gehört in Reich der eher selten gewordenen Erscheinungen.

Wäre das Jahr noch etwas länger, würden zwei Aufnahme allerdings womöglich noch viel öfter den Weg in die Jahreslisten antreten: „Souvenance“, die vielleicht bedeutsamste und zauberhafteste und dunkelste (und jeden Superlativ locker aushaltende) Arbeit des tunesischen Oud-Spielers Anouar Brahem. Entstanden im Umfeld und Ausklang politischer Unruhen, „Souvenance“ heisst „Erinneung“, und jede Schönfärberei bleibt aus. Sowie, aus dem kalten Norwegen, „Bonita“ von Sidsel Endresen und Stian Westerhus. Da kann Improvisationskunst mal wieder mal eine fast vergessene Qualität ausspielen – unter die Haut gehen, Schauer von Wirbel zu Wirbel senden, und zwischendurch gar Angst verbreiten. Gut, dass man nicht ständig in die Siebziger Jahre flüchten muss, um so vielen gezähmten, im Kreise sich drehenden, Sounds zu entkommen!

Apropos Siebziger Jahre: Manfred Eicher sollte mal erwägen, „Nan Madol“ von Edvard Vesala, „Triptykon“ von Jan Garbarek, und „Northern Song“ von Steve Tibbetts neu herauszubringen. Wir würden eigens dazu eine neue Textreihe eröffnen: „Stardust Memories“. Keine falschen Seligkeiten.

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