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2014 9 Nov

Das heitere Parallellesen von “Bleeding Edge” (6)

von: Manafonistas Filed under: Blog | TB | 1 Comment

 
bleeding edge
 
 
 

Ein weiterer, ziemlich bedrückender Ausflug ins Deep Web zunächst, eine seltsame DVD dann, eine Freundin, Cornelia, will mit Maxine shoppen gehen, das ist nicht gerade das, wonach Maxine der Sinn steht, überhaupt, stellt sie bei Cornelia Anzeichen von fortgeschrittenem DPS fest. Was das nun wieder ist? Ganz einfach: Discountpreistupor. Aha! Okay, ich gebe zu, `Tupor´ nachgeschlagen zu haben: Slang word for „class“ used by some groups in the upper Midwest.

Anderes Thema jetzt – schon mal so eine Beschreibung eines Chefschreibtisches gelesen?:

„… Chandler Platt, der hinter einem Schreibtisch aus vierzigtausend Jahre altem neuseeländischem Kauriholz residiert, eher eine Immoboilie als ein Möbelstück, was den müßigen Betrachter, und sei er in derlei Dingen noch so unbeleckt, zu der Überlegung führt, wie viele Sekretärinnen wohl bequem darunter Platz haben und welchen Komfort sie genießen – Toilette, Internetzugang, ein paar Futons, damit die Schnuckelchen in Schichten arbeiten können …“

Ganz anderes Thema jetzt:

Wer hätte gedacht, dass Pynchon einmal über IKEA schreiben würde, doch, er schreibt, aber wie:

Erster Hieb:

„Später findet Maxine ihn (Horst) im Esszimmer, wo er versucht, aus Spanplatten einen Computertisch für Ziggy zusammenzubauen. Aus mehreren Fingern quillt Blut, die Lesebrille droht, von der verschwitzen Nase zu rutschen, auf dem Boden liegen geheimnisvolle Verbindungsteile aus Metall und Plastik, sowie die zerfledderte, zerrissene Bauanleitung herum. Er schreit. Das diskursbestimmende Wort ist: `Scheiß-IKEA´.“

Zweiter Hieb:

„Wie Millionen Männer weltweit hasst Horst den schwedischen Möbelgiganten. Er und Maxine haben einmal ein ganzes Wochenende damit verschwendet, die Filiale in Elizabeth, New Jersey zu finden, die gleich neben dem Flughafen liegt, damit der viertreichste Milliardär der Welt Logistikosten spart und der Rest der Menschheit sich auf und neben dem New Jersey Turnpike verfahren kann.“

Dritter Hieb:

„Bei IKEA war eine ganze Abteilung damit befasst, falsche oder fehlende Teile zu ersetzen, ein dort nicht allzu exotisches Thema.“

Vierter Hieb (eigentlich kein Hieb, eine schlichte Feststellung einer nicht sehr kundenfreundlichen Gestaltung der Ausstellungsräume):

„In den genannten Verkaufsräumen läuft man endlos lange zwischen bourgeoisen Kontexten oder `Lebensmittelpunkten´dahin, auf einem vorgegebenen Fraktalweg, der sein bestes tut, alle Punkte der vorhandenen Fläche zu berühren. Ausgänge sind deutlich gekennzeichnet, aber unerreichbar.“ So ist es!

Anderes Szenario jetzt:

Die Kinder kommen zurück! Horst hat mit den beiden Jungs wirklich nichts ausgelassen. Und wir Leser lernen eine Menge über Spiele, natürlich Computerspiele. Wir erfahren allerdings auch auf welchem beruflichem sich Gebiet Horst aufzuhalten beliebt: Er hat es u.a. mit der Weizenbörse in Chicago.

Gregor M.

 

 

Paranoia und Verschwörungstheorien wuchern weiter: die Stinger Raketen auf dem Dach des Deseret, dort die Paschtu Schrift auf einem Batteriedeckel: „… vielleicht echt, vielleicht auch von CIA, damit es nach Mujaheddin aussieht, um Aktion zu verdecken.“ „Sie (gemeint sind graue Hintermänner) wissen es und sie werden es nicht verhindern.“ Die ganze Handlung steuert immer mehr auf 9/11 zu, dessen Schilderung dann fast nebensächlich scheint. Doch wahrscheinlich waren die Bewohner der Upper West Side weit entfernt von den Twin Towers und haben die Attentate in erster Linie vor dem Fernseher verfolgt. March bringt die Anschläge mit der Bush Administration in Verbindung und zieht Parallelen zum Reichstagsbrand, Schwager Avi meint, dass „jeder Judenhasser 9/11 den Mossad in die Schuhe schieben will.“ Dazu letzte Woche in der Zeit (ironisch): „Man verschweigt und die Wahrheit! Die CIA und der israelische Geheimdienst Mossad stecken hinter den Anschlägen vom 11. September 2001.“

Gleichzeitig beginnt die Handlung klarer zu werden. Mein Eindruck: Pynchon erzählt nun geradliniger und direkter, er mäandert und schnörkelt weniger. Erzählerische Löcher werden gefüllt (z.B. der Auftritt von Brooke und Avi). Vielleicht habe ich mich nach 414 Seiten an den Stil gewöhnt. Es tauchen schon immer wieder Figuren auf, an die ich mich zunächst nicht erinnere: z.B. Cornelia, Frau von Rocky – sind wir ihr in der koreanischen Karaoke Bar begegnet?

Zum heimlichen Hauptthema Gentrifizierung in New York: „… alles verblasst zur Yup-Gleichgültigkeit, während die Hochhäuser, frei von allen Selbstzweifeln, ihren Marsch nach Norden fortsetzen.“ Die alten Gebäude „werden allesamt abgerissen und mit Bulldozern auf die Deponie für verblassende Erinnerungen geschoben.“

Überhaupt: Erinnerung, das Verhältnis zur Vergangenheit, schimmert vielfältig durch die Handlung: Maxine leidet an einem „Anfall von Flashback-Intoleranz“, an einer anderen Stelle heißt es: „Nostalgie umschleicht sie, stets bereit, aus dem Hinterhalt in sie einzusickern.“ Und auf einer Party laufen alte „Songs, deren Hooklines noch heue im Hinterhalt liegen, um einen in einer müßigen Stunde zu überfallen“.

Pynchons Musikkenntnisse kommen nicht zu kurz. Nas und „The World is Yours“ werden genannt. Nicht gerade obskur – schließlich widmet die 33 1/3 Reihe Nas’ Album „Illmatic“ einen Band – muss man aber trotzdem erst mal machen. Wenig später werden dann noch Urge Overkill erwähnt; Pynchon kennt scheinbar wirklich alles.

Bleeding Edge spielt in einer Zeit, als eine Medientechnologie gerade eine andere ablöst: Maxine benutzt sowohl einen VHS Rekorder, als auch einen DVD Spieler.

Gänsehaut und „Nein, tu es nicht!“-Gedanken hatte ich, als Maxine auf dem Weg zu Windust durch Flur und Treppenhaus eines furchterregenden Apartmenthaus irrt, die Wohnung betritt und … so langsam beginne ich die Charaktere ernsthaft zu mögen. Das Buch entwickelt auf der Zielgerade endlich einen Sog.

Olaf W.

 

 

Letzte Woche waren meine Gefühle dem Buch gegenüber so ambivalent, dass ich zu einer neurotischen Verarbeitung greifen musste und eine Schreibhemmung entwickelte. Zum Glück hatte ich gerade wieder einmal „Shining“ gesehen, Stanley Kubricks Verfilmung des Stephen-King-Romans mit den genialen Kamerafahrten durch ein saisonal leerstehendes Rocky-Mountain-Hotel, hinter einem Dreirad her, über Teppichkanten, durch unzählige Flure, endlose Gänge, vorbei an Hunderten von Türen und abermals Türen, und hier wird das Abschweifen des Rezensenten geradezu pynchonesque, wissen doch nur wenige, in welchem Film wir jetzt gelandet sind, und noch weniger: warum? Und es gibt auch keine Hilfe vom Pynchon-Lexikon. Und wieder zurück:

Der Vater des Dreirad fahrenden Jungen, Jack Torrance, gespielt von Jack Nicholson, bietet sich bei nahender Schreibhemmung zur Identifikation regelrecht an. Auch er leidet an dieser für Schriftsteller so unangenehmen Neurose, die bei ihm allerdings in den blanken Wahnsinn führt. So entdeckt seine Frau eines Tages, dass auf Hunderten beschriebener Seiten nicht Romanteile zu lesen sind, sondern immer nur der eine Satz, sinngemäß übersetzt: „Zu viel Arbeit, zu wenig Spiel, macht Jack zum Langweiler.“ In manchen deutsch synchronisierten Fassungen des Films steht hier der Satz: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nie auf morgen“.

Auch Pynchon macht sich (zu) viel Arbeit, indem er wohl den Inhalt seiner (virtuellen?) Zettelkästen komplett unterbringen will. Das passt nicht immer zum Stand der Dinge im Buch und wirkt dann ermüdend. Eigentlich müsste alles Erwähnte eine Geschichte haben, in die eingebettet es erst lebendig werden kann. Es müsste erzählt werden, aber das Erzählen ist nicht Pynchons Stärke. (Bei der Lektüre von Patrick Modianos Buch „Aus tiefstem Vergessen“ entstand dagegen sofort Interesse an den Protagonisten, Sympathie, Beziehung…)

Vielleicht mag Pynchon seine Romanfiguren gar nicht? Das würde auch erklären, warum er sie immer wieder verlässt. Wenigstens kommen Maxine‘s zwei Jungs aus ihrem Urlaub mit dem Vater Horst zurück. Das ist meine Lieblingsszene der Woche: die beiden berichten ihre Erlebnisse, und es klingt wie die Gelben Seiten gehobener Junkfoodgastronomie. Danach werden sie den Großeltern überstellt, und Maxine kann sich ungestört in die nächsten Abenteuer stürzen.

Wolfram G.

 

 

Maxine begleitet Cornelia zu „Loehmann´s“, einem Shopping-Paradies für Shopaholics, zu dem man nur jüdischer Begleitung Zutritt bekommt, verschwindet dann aber auf die shooting-range, trifft dort `Weinkenner´ Randy, dem Ice die Zutrittsberechtigung zu seinem Anwesen entzogen hat und hetzt zurück zu „Loehmann´s“, um Cornelia vor dem Zusammenbruch zu retten. Diagnose: DITS („Discount Inventory Tag Stupor“, Sonderangebotsanhängeransehenmüssenkoller). Maxine fragt Cornelia um Rat, das Stinger-Video betreffend, und die schickt sie zum „Kümmerer“ Chandler Platt („financial community big shot and fixer“). Platt schaut sich das Video an, spricht mit ein paar Freunden („in the preInternet sense of the term“) und ist erstaunt: Die Freunde reagieren merkwürdig, so als wüssten sie, was passieren wird. Platt rät ihr, „terrorist-related activities“ zu vermeiden. Horst und die Kinder kommen zurück und berichten von ihrem Urlaub („Horst couldn’t help noticing how the places had, most of them, grown more ragged since his time“). Horst bleibt („The boys will be thrilled, I think.“) und wird häuslich („Fucking IKEA“). Maxine wird von Tworkeffx.com zur „Geeks Cotillion“, einem Figurentanzball, eingeladen. Tworkeffx.com ist ein Pleiteunternehmen, das gerade von Gabriel Ice aufgekauft wurde. Horst lernt tanzen („Long as I don´t have to sway my hips“) und begleitet sie. Trotz Umsatzeinbrüchen ist die Tworkeffx-Party ein Mega-Event der IT-Branche („creepy retro-pissing contest with Josh Harris“). Maxine triff dort Eric, der sie nach einer „Klodyssee“ („unisex and privacy-free“, „seethrough acrylic“, „number of theme restrooms“, „godfather of postmodern toilets“, „… come/To the Toilet! Flush all those/Troubles and dance!“), zu Felix bringt, der ihr Gabriel Ice („… eyes less expressive than many Maxine has noted at the fish market“) vorstellen will. Maxine hört ihn seinen Jüngern die Devise „Go North“ verkünden („My geek brothers! …the future is out there on the permafrost … gain control of the supply of cold as a natural resource of incomputable worth …“) und wendet sich ab. Auf dem Weg nach Hause beteiligt sich der Taxifahrer an einer arabischen Funkkonferenz, von der Maxine nur das Wort „Inshallah“ versteht, das Horst mit „Arabic for `whatever´“ übersetzt. Der Fahrer korrigiert ihn: „If it is God´s will“. Am nächsten Tag fällt Horst auf, dass die Aktien von United Airlines und American Airlines in großem Umfang zum Kauf angeboten werden. Am Montag geht Horst zum Football und will bei einem Freund übernachten, am Dienstag fliegen zwei Airliner in das World Trade Center, in dem Horst sein Büro hat.

Trotz der offenbaren Inhaltsfülle bewegt sich Bleeding Edge wieder in ruhigeren Fahrwassern, sodass ein wenig Zeit bleibt, Horst und die Maxine-Horst-Beziehung kennenzulernen. Vielleicht ist es von der Tagesform abhängig, aber der aktuelle 100-Seiten-Brocken kam mit doch ein wenig leichter verdaulich vor. Was mit gefällt, ist die Beiläufigkeit, mit der Pynchon den Anschlag auf das World Trade Center schildert und doch (vor allem in Gestalt von March) den gängigen Verschwörungstheorien Raum gibt. Köstlich ist die IKEA-Schilderung: „Inside the store proper, you walk forever from one bourgeois context, or „room of the house,“ to another, along a fractal path that does its best to fill up the floor space available. Exits are clearly marked but impossible to get to. Horst is bewildered, in a potentially violent sort of way. „Look at this. A barstool, named Sven?““ Bin jedenfalls gespannt, wie’s weitergeht!

Thomas S.

 

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1 Comment

  1. Olaf:

    Ja, mir kommt es auch so vor, als wenn Pynchon Ideen und Sprache wichtiger sind als Handlung und Personen. Vielleicht mag er sie ja wirklich nicht? Ich beginne zwar das Buch jetzt so langsam zu mögen (stilistisch ist es wirklich toll!), es ist aber noch sehr zähflüssig.


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