Nicht nur bei Thomas Pynchon, auch bei unserem munteren „Parallellesen“ geht es ums Verschwinden, teilweise. Einer konnte seinen Text nach einem Fahrradunfall nur unter Schmerzen schreiben (eine Fassung ging im Deep Web verloren), und wer weiss, ob alle „fünf Freunde“ (soviele waren es doch bei Enid Blyton) wissen, dass ihre Lesezeit der ersten 57 Seiten heute um Mitternacht abgelaufen ist. Bis dahin muss alles dingfest sein. Nächsten Sonntag geht es es dann bis Seite 107. Und wer weiss, ob am Ende überhaupt ein „Pynchon-Mohikaner“ übrigbleibt. (Parallel Reading Holes Inc.)
Da ich bisher kaum Pynchon gelesen hatte, wusste ich nicht wirklich was mich erwartet. Mit langen, verschachtelten Sätzen, einem insgesamt langsamen, epischen Tempo hatte ich gerechnet. Stattdessen: abrupte Szenenwechsel, plötzliche Rückblenden, harte Schnitte, normal lange Sätze, Alltagssprache. Die Lektüre fühlt sich an wie eine überdrehte New Yorker Fernsehserie. Beim Lesen entstehen knallbunte Bilder, als Soundtrack höre ich 80er/90er Jahre MTV-Musik heraus.
Pynchon schildert das alltägliche Chaos von Maxine Tarnow, Eigentümerin der Detektei „Ertappt – Geschnappt“: ihr Exmann Horst („so emotional wie ein Getreidesilo“) und die gemeinsamen Kinder Ziggy und Otis werden erwähnt, auch Absurditäten wie eine Kreuzfahrt mit den „Amerikanern mit Borderline Störung“ oder einem Ego-Shooter ohne Splatteroption (also ohne Blut).
Mittendrin bekommt Maxine einen Auftrag, der für mich noch unscharf bleibt (mal sehen ob sich das überhaupt noch ändert). Es geht jedenfalls um eine Silicon Alley Technologiefirma mit dem schönen Namen Hashslingrz.
Und das Buch ist toll geschrieben! Pynchon findet Sätze fürs Poesiealbum: „Die Vergangenheit ist eine offene Einladung zum Weinmissbrauch“ und „Paranoia ist der Knoblauch der Küche des Lebens – man kann nie genug davon haben“ waren bisher meine Favoriten. Mein Lieblingsbild ist der im New Yorker Straßenwirrwarr aufleuchtende Chinesische Wildbirnbaum auf der ersten Seite – ein Ruhepol. (Olaf W.)
„Emotherapeuten“. Ich kannte diesen Aussruck nicht. Aber für Sinn suchende New Yorker der Mittel- und Oberschicht klingt das doch besser als „Verhaltenstherapeut“, oder, auch schon eine historische Requisite, „Psychoanalytiker“. Ganz „dicht“ sind die wenigsten, die hier auf den ersten 57 Seiten rumlaufen. Und Scheinexistenzen ohne Ende.
Der „Emotherapeut“ etwa verweist auf seiner Webseite gerne auf politisches Exil und Wanderjahre im Himalaya. Shawn sei dort einer alle irdischen Grenzen übersteigenden Weisheit teilhaftig geworden. Aber eine kurze Recherche entlarvt ihn als „zwanghaften Surfer“, und seine einzige nachweisbare Reise habe ihn „im Greyhound-Bus vom heimatlichen Südkalifornien nach New York geführt.“
Maxine, eine Protagonistin des Romans, betreibt eine kleine Detektivagentur, die auf Betrugsfälle spezialisiert ist, aber sie lässt sich ihre Besuche beim „Emotherapeuten“ nicht nehmen. Schliesslich hat sie auch mindestens ein Trauma, das „Horst“ heisst, und ein besonderes Faible für Aufträge, die sie von einer Bredouille in die nächste bringen.
Ich habe nie begriffen (oder ist es was Orwell’sches?), wieso Thomas Pynchon in seinen burlesken Porträts von Verrückten, Geschäftemachern und anderen Nach-Resten-von-Sinn-und-Ordnung-Suchenden Paranoia zu einem Dauerthema macht, aber seis drum: der Auftakt des Romans ist von scharfem Witz, und man fühlt sich eigentlich schon nach wenigen Seiten so, als hätte man ein, zwei trockene Martini intus. Und Verschwörungstheorien sind wohl Teil all seiner Kapriolen – dass das Ich selbst eine durchlässige, verschwindende Grösse ist, macht die Sache nicht einfacher – bei Marlowe und Spade hatten Detektivjobs anfangs vielleicht unbekannte, jedoch immer festumrissene Ziele. (Michael E.)
Warum nur muss, wenn man sich mit Pynchon beschäftigt, es immer um das Verschwinden gehen. Angefangen beim Autor, zieht sich dieses Motiv auch durch seine Romane, auch in seinem neuesten Buch Bleeding Edge ist das ein Thema. Aber scheinbar wird man auch als harmloser Leser und Schreiber dieser Zeilen von dem „Verschwinden-Virus“ ganz schnell angesteckt. Am Mittwoch dieser Woche hatte ich meine Bemerkungen zu den ersten 57 Seiten des Roman fix und fertig, wusste ich doch, dass es sonst zeitlich sehr eng werden könnte. Und, man ahnt es schon, die entsprechende Pynchon-1-Datei ist verschwunden, was bleibt, ist eine Verknüpfung, die allerdings nichts verknüpft, sondern ins Leere führt, wahrscheinlich ins DeepArcher …
Aufs Neue also!
Zunächst: Es macht einmal mehr wirklich viel Spaß und Freude, den neuen Pynchon zu lesen. Manche Formulierungen sind wieder so witzig, dass man hinausbrüllen mag, manche Wortschöpfungen und Metaphern so ungewöhnlich, aber dennoch treffend, dass es die wahre Freude ist: „Noch habe ich meine Seele nicht verkauft – höchstens hier und da mal ein Scheibchen – …“ (S.19). „Paranoia ist der Knoblauch in der Küche des Lebens – man kann nie genug davon haben.“ (S.20) Ein letztes Zitat: „Jedes Jahr schleppt er mich zu diesen Veranstaltungen, und ich fresse mich in die Vierziger-Kleidergrößen vor, weil es da nie jemanden gibt, mit dem man sich unterhalten kann …“ (S.24)
Inhaltlich geht es gleich in medias res: Wir befinden uns im Frühjahr des Jahres 2001 und begleiten Maxine Tarnow, in manchen Systemen noch als Loeffler gespeichert, auf ihren Weg zur Otto- Kugelblitz-Schule, wohin sie ihre beiden Jungs bringen wird. Wow, wer ist nun wieder Otto-Kugelblitz? Pynchon erläutert seinen Lesern, dass besagter Kugelblitz wegen der von ihm entwickelten Rekapitulationstheorie aus dem engsten Kreis um Freud ausgeschlossen wurde.
Zum Glück erklärt uns der Meister, um was für eine Theorie es sich handelt: „Für ihn war offensichtlich, dass der Mensch im Laufe seines Lebens die verschiedenen seinerzeit klassifizierten Geistesstörungen durchmacht: den Solipsismus des Kleinkindes, die sexuelle Hysterie der Adoleszenz und der frühen Erwachsenenzeit, die Paranoia der mittleren Lebensjahre, die Demenz des Alters …“ Ob es Otto Kugelblitz wohl wirklich gab?
Ein inzwischen mit Hilfe der weltweiten Pynchon-Gemeinde erstellte Internetseite hilft hier und bei den meisten anderen der zahllosen Rätsel weiter: pynchonwiki.com/ Und das ist „a Literary Wiki Exploring the Novels of Thomas Pynchon NEW: The Wiki for Thomas Pynchon’s latest, Bleeding Edge, with full index of characters (with page numbers), page-by-page annotations, reviews, and lots more, is now LIVE!“. Und zu Otto Kugelblitz heißt es da: „A fictitious character, i.e. no real person. Maybe Otto Rank was the blueprint for Otto Kugelblitz.“
Na, bitte, da kann man jetzt also richtig Zeit damit verbringen, ähnlich der Lektüre der Schriften von James Joyce, und versuchen, alle Rätsel zu knacken. Aber auch der Leser, der über das eine oder andere Unverständliche hinweg liest, wird seinen Gefallen an der Lektüre des neuen Buches finden, da bin ich mir schon jetzt ganz sicher. Und manchmal sind es nur die kleinen Geschichten in der großen, die viel Freude bereiten, so etwa die des Dokumentarfilmers Reg Despard, von dem Pychon erzählt, er habe als raubkopierender Filmpirat angefangen und dem am Schluss ein Professor, der an der NYU Film unterrichtete, nachrannte, um ihm zu fragen, ob er eigentlich wisse, „wie weit er mit seiner neo-brechtianischen Subversion der Diegese der Avantgarde dieser Post-postmodernen Kunstform voraus sei.“
Und selbstverständlich lernen wir auch auf diesen ersten 50 Seiten schon DeepArcher kennen – „Wie `Departure´, nur anders geschrieben“- die Unterwelt des Internets, und seine beiden Schöpfer Justin und Lukas.
Übrigens, eine Sicherheitsfirma namens hashslingrz habe ich im Netz nicht finden können, aber die Seite hashslingrz.com gibt es wirklich! (Gregor M.)
Es hat mich ein wenig irritiert, heute Morgen schon die Gedanken der pynchonlesenden Kollegen im Internet zu finden. Ich war überzeugt davon, heute am 5.10. meinen Beitrag liefern zu müssen. Nun ist es gewiss nichts Neues für mich, unter Zeitdruck zu geraten. Aber es wäre schon hart, bereits disqualifiziert zu sein, bevor ich überhaupt herausgefunden habe, um was für eine Art Roman es sich bei „Bleeding Edge“ handelt.
Um einen Gesellschaftsroman? Einen Agentenroman? Einen Thriller? Für Letzteres wäre er mir nicht straight genug. Es kommen auch ein Ex-Ehemann, ein Psychoanalytiker und viel Humor darin vor – also ein Schelmenroman? Wer weiß, wohin es sich auf den nächsten Seiten weiter entwickelt. Ich glaube, am meisten freue ich mich auf die Fortsetzung des Erziehungsromans.
Denn die Idee des Schulgründers Otto Kugelblitz, „einen Lehrplan zu formulieren, nachdem jede Jahrgangsstufe mit einer anderen Geisteskrankheit gleichgesetzt und entsprechend behandelt“ werden soll, ist ebenso wahnwitzig wie unserer Realität nahe: jede Kindheit, jede Jugend muss ja mindestens 5 wechselnde Moden pädagogischer Stigmatisierung und psychologischer Pathologisierung über sich ergehen lassen (ADS, Tyrann, Autismus, mediensüchtig, helikopterverwöhnt usw.).
Ich bin gespannt, wie Otis und Ziggy, die Kinder Maxines, damit umgehen. Mehr aus dem Familienroman am nächsten Sonntag, dann hoffentlich unmissverstanden pünktlich. (Wolfram G.)
Unerwartet großes Lesevergnügen! Ich bin froh, am Parallellesen teilzunehmen, da ich Thomas Pynchon sonst wohl kaum für mich „entdeckt“ hätte. Erwartet habe ich ein durch und durch verkopftes literarisches Werk, das sich nur mit Mühe erschließen lässt und harte Arbeit bedeutet. Gefunden habe ich ein Buch, das mich von Anfang an auf ganz eigentümliche Weise in seinen Bann gezogen hat. Als Büchervielfraß bin ich bei der Auswahl meiner Lektüre oft nicht sehr wählerisch und bevorzuge schon seit längerem Bücher, die ich mir schnell einverleiben kann (Kriminalromane!). Bereits nach den ersten Absätzen ist klar, das dies hier nicht funktioniert. Bleeding Edge ist kein Schnellimbiss, sondern gehobene Küche, die langsam genossen werden muss. Lässt man sich aber darauf ein, reduziert das Lesetempo und wird zum aktiven Leser, der auch einmal das eine oder andere nachschlägt (ich lese auf dem iPad und habe beim Lesen direkten Zugriff auf das Internet), öffnet sich eine eindrucksvolle Welt, die man sehen, hören („Landslide“ von Stevie Nicks, „Borderline“ von Madonna) und manchmal sogar riechen kann (etwa den Samengeruch der „Calery Pears“, die die Eingangsszene beherrschen). Die dichte Sprache von Thomas Pynchon macht´s möglich. Dabei ist das Ganze eben nicht verkopft, sondern witzig und spitzfindig. Ich bin absolut erstaunt, dass ein Buch von Thomas Pynchon so einen Spaß macht und freue mich auf die nächsten Kapitel. Danke Gregor! (Thomas S.)