Manafonistas

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2014 19 Juli

Wodka gibt´s heut wieder nicht!

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | 2 Comments

Selbst der zahnloseste Volksmund nennt seine Zahnarztpraxis gerne in Verbindung mit einem Possessivpronomen, auch wenn er nicht der Eigentümer ist oder als Herr einem leibeigenen Dentisten vorsteht. Er will nur sagen: „Ich bin nicht Zahnarzt-los!“

Meine Zahnarztpraxis also … – ist ein Glücksfall. Unter den dort praktizierenden Ärzten, dem Personal und den Patienten sind viele Russen. Die sind ein heiteres und geselliges Völkchen. Zudem herrscht dort stets ein kreativ improvisatorisches Chaos. Anästhesiert wird jedoch herkömmlich, nicht etwa durch die Verabreichung von Wodka, dafür aber begleitet von Fröhlichkeit und Geflirte.

Die geschmacklich streitbare Innenaustattung allerdings, in der sich pompös-bequeme Ledersessel im Wartezimmer mit dunkelfarbenem Laminat und giftgrünen Kitschbildern beissen; zudem ein Großmonitor mit einem Entspannungsvideo, das Buckelwale zeigt, akustisch untermalt von Michael Holms Panflötengesängen … – das ist nicht der wahre Grund zur Freude. Vielmehr ist es die erlesene Auswahl hochaktueller Zeitschriften, mit denen sich die teilsweise ausufernde Wartezeit spielend überbrücken und überkronen lässt.

Ist der Ort durch Feng-Shui gereinigt worden? Waren dort vor Urzeiten Druiden und haben die Wasseradern umgeleitet? Konzentration und Einbildungskraft sind hier auf wundersame Weise geschärft. Man liest etwa einen Spiegelessay über Donna Tartt anlässlich ihres Werkes Der Distelfink, fühlt sich der Autorin seelenverwandt in ihren Phasen von weiser Weltabgeschiedenheit und denkt zurück an ihr Debüt Die geheime Geschichte, das sie nach damals neunjähriger Schreibarbeit zur Bestsellerin machte.

Man liest über den Komiker Heinz Strunk, dessen Roman „Fleisch ist mein Gemüse“ zu eigenen Wortschöpfungen inspirierte: Gemüse ist mein Fleisch, das Fahrrad mein Rollator, die Gitarre meine Leselampe. Strunk würdigt Botho Strauss, stellt ihn neu zusammen und nennt ihn zudem den „Schriftsteller meines Lebens“. Unsereins sampelt lieber selbst, liest im Original-Strauss – liebt aber dessen Sound gleichermassen und schätzt sein jüngstes Werk Lichter des Toren als profunde Zeit- und Medienkritik.

So wandert man also umher zwischen Feuilletonseiten und eigenem Gehirnkino – bis eine aufweckend-freundliche und schöne Russin ruft: „Der Nächste bitte!“ Heiter geht der ewige Patient, ganz ohne Masochist zu sein, den notwendigen Gang entlang und weiss doch: Wodka gibt´s heut wieder nicht!

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2 Comments

  1. Henning Bolte:

    Richtig schön, Jochen!

  2. Uwe Meilchen:

    Botho Strauss war mir immer etwas „zu hoch“ –
    und dann noch Heinz Strunk dazu, der ihn geradezu verehrt ! Nun ja.


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