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on life, music etc beyond mainstream

2014 18 Mai

Die Klasse von 73

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | 11 Comments

 

 
 
 

 
 
 

 
 
 

Damals, im Mai 1973, als wir in der Musikaula des Max Planck-Gymnasiums (Dortmund) in einem geradezu feierlichen Akt alter Schule unser Abitur in Empfang nahmen, hörte ich exzessiv einen Song der Temptations: „Papa Was A Rollin‘ Stone“. Eine ziemlich traurige Familengeschichte, mitreissend vorgetragen. In jenem Jahr lief auch der anrührende Oldie von Albert Hammond „on high rotation“, „It Never Rains In Southern California“. Selbst dieser Song war keine Hippie-Schnulze, sondern ein verdammt sehnsüchtiges Lied, das, wie die  Beach Boys auf „Pet Sounds“, traurigste Dinge in allerschönste West Coast-Sonnenuntergänge verwandeln konnte. Nun traf sich ein harter Kern der Klasse von 1973 im Schwabenland zu einem denkwürdigen Klassentreffen. Unser Klassenlehrer, Dr. Egon Werlich (Englisch und Deutsch), ein harter Hund, ein konservativer Freigeist, eine Kapazität auf den Gebieten, „englisches Denken“ zu lehren und radikale Strömungen der modernen Literatur (von Ezra Pound über D.H. Lawrence bis Samuel Beckett) als kühne, Horizont erweiternde Abenteuer darzubieten, war gestorben, und viele von uns hatten noch Gelegenheit, ihn im letzten Sommer in alter geistiger Frische zu erleben. Jeder hatte sich an dieser dominanten Figur abzuarbeiten, und ich werde mich jetzt hüten, alle alten Stories aufzutischen. Es war beeindruckend, dass so viele den Weg in Rudis „Car Park Saloon“ gefunden hatten. Harald H. und Randolf K. kamen gar mit dem Flieger, Thomas S. aus dem hohen Norden mit dem Motorrad angerauscht, der Rest kämpfte sich an einem Tag, an dem es Hunde und Katzen regnete, über diverse Autobahnen. Einige konnten leider nicht dabei sein, so waren Klaus und Babsi schon auf dem Sprung über den grossen Teich, um ein halbes Jahr lang in ihrem grossen „Camping-Van“ den Norden Kanadas bis nach Alaska zu durchstreifen. Wir hatten es uns mittlerweile behaglich gemacht am Rande Stuttgarts, Thomas H. (sichtlich erholt nach harten Zeiten), Michael H. und Peter W. nebst Gattinnen, Robert F., sowie Horst W. (der Klassensprecher, der durch eines der drei obigen Fotos huscht). Rudis Lebensgefährtin entpuppte sich als herzliches und kontaktfreudiges Wesen, eine Bilderbuch-Gastgeberin, alle wechselten immer wieder die Plätze, und das grosse Erzählen der kleinen Geschichten begann, während allerfeinstes Rindergulasch mit Spätzle serviert, und Veuve Clicquot aus Bierkrügen (oder was war das?) getrunken wurde. Hier ging es nicht um Karrierebilanzen, ein grosses Besäufnis und andere, gern chauvinistisch geprägte, Bauchnabelpinseleien der Rotary-Clubs dieser Welt, hier entstand auch unter denen, die sich einst herzlich wenig zu sagen hatten, eine geradezu freundschaftliche Nähe. Das alles wurde ein Stückweit getriggert durch Rudis psychedelische „Zeitmaschine“, die all die alten Lieder dezent abspulte. Michael H. und ich rezitierten unisono den alten Zweizeiler, den wir  bei „Egon“ messerscharf analysiert hatten: „The apparition of these faces in the crowd / Petals on a wet, black bough“. Später, als der Schlaf allmählich sein Recht forderte, und mir noch einige Geschichten des Abends durch den Kopf geisterten (von sadistsichen Mathepaukern, deutschen Liedermachern, archetypischen „Klammerblues“-Nummern, der Londoner Klassenfahrt, etc.) öffnete ich mein Hotelfenster, um die kühle Nachtluft hereinzulassen. Da sah ich zwei Gestalten, Rudi und Horst waren es wohl. Sie öffneten die grosse Garage und begaben sich mit einem alten Mercedes Coupe, einem Schätzchen aus Rudis Sammlung, auf eine kleine Spritztour durch die Nacht. Aus dem Lautsprecher tönte ein Song (und zwar volle Kanne!), den ich 1973 akustisch völlig falsch verstanden hatte: ich hatte mir stets eine ziemlich scharfe Brünette namens Rita vorgestellt, die ungefähr das gleiche erotische Kaliber darstellte wie eine Uschi Nehrke oder Diana Rigg, dabei hiess der Song von Golden Earring nicht „Rita Love“, sondern „Radar Love“. Ich überlegte kurz, in meinen Toyota zu springen und den beiden Verrückten zu folgen, aber, eh ich mich versah, waren sie schon hinter einer Hügelkuppe verschwunden, eine hochgewirbelte Staubspur mischte sich mit dem fahlen Licht einer Neonlaterne, und auch der Evergreen hatte sich in Luft aufgelöst.

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11 Comments

  1. Randolf:

    Danke!

  2. lothar:

    An das Haiku von EP mußte ich am Samstag denken – wie tief die Dinge doch sitzen.

    Viele Grüße
    Lothar

  3. Michael H.:

    Besser hätte ich meine Gefühle und Gedanken zu diesem Abend auch nicht formulieren können. Vielleicht – oder wahrscheinlich – hätte ich es nicht einmal so gut gekonnt.
    Danke dafür.
    Und womöglich bis zum Wiedersehen im nächsten Jahr!

  4. Hannspeter B.:

    Sehr informativer Bericht. Der Titel des Gedichts fehlt (unterschlägt fast ein Drittel Text – allein mit „Metro“ und der etymologischen Rückführung bis ins Griechische, haben wir gefühlt 45 Minuten verbracht). Ich habe übrigens meinen Karteikasten noch!
    Beste Grüße aus Köln!
    Hannspeter

  5. Michael Engelbrecht:

    Stimmt, Hannspeter! „In a station of the metro“. Michael H. und ich haben den Titel einfach mal ausgelassen, das verlief ungefähr so: „Weisst du noch, den Zweizeiler über die Underground?“ Und los ging’s, Ton in Ton! Bei solchen Schilderungen sollte man ja realistisch bleiben, nichts schönen, nichts erfinden. Dir alles Gute!

  6. lothar:

    Die Mathepauker habe ich nicht als sadistisch in Erinnerung, eher die Sportlehrer.

  7. Michael Engelbrecht:

    Ich meinte Herrn Korte, der war auch Sportlehrer, ein Arschloch, das seinesgleichen suchte. Diese unbekehrten Altnazis hatte man Mitte der sechziger Jahre noch auf uns losgelassen, und sie wendeten mit grossem Vergnügen das scheinbar noch geltende Recht diverser körperlicher Züchtigungen an. Seit Mitte meiner Studentenzeit lasse ich mir von reaktionären, selbstverliebten Hohlköpfen und Psychos nichts mehr bieten. Wenn du solche Menschen direkt konfrontierst, dann schrumpfen sie meist auf Hutgrösse zusammen. Leider waren wir damals noch leicht zu verschrecken, in den jungen Jahren besonders. Egon agierte manchmal auch grenzwertig, und hatte ein paar eigene Dämonen neben sich herlaufen, aber er war ein grosser Freigeist, und er war unter dem Strich der beste Lehrer, den ich je hatte. Nicht der netteste:)

  8. lothar:

    Man darf nicht nett sein, wenn man eine Bande von Jugendlichen auf das richtige Gleis spuren will.
    Ich glaube jedoch von den diversen Klassentreffen mitgenommen zu haben, daß Egon und sein Referendar uns im Großen und Ganzen gemocht haben.
    Mit den Altnazis gebe ich Dir recht.

  9. Michael Engelbrecht:

    Nachrichten von Babsi und Klaus (via Email):

    „Hallo Micha,
    haben gerade im Visitor Center des Gros Morne Nationalparks auf Neufundland mit viel Vergnügen deine lyrische Nachlese des Stuttgarter Treffens gelesen und sind beim nächsten Mal bestimmt dabei. Fotos sind noch auf dem Chip, demnächst gibt’s dann mal eins.
    Sind gerade von einem Trail durch Schnee uind Sturm zurück, hatten aber auch schon 20 Grad und viel Sonnenschein.
    Viele Grüße
    Babsi und Klaus“

  10. Hannspeter Bauer:

    Ich habe eine sehr widersprüchliche Wahrnehmung von Egon Werlich, die sich in den letzten Jahrzehnten nicht stabilisiert hat. Bei unserem Treffen im letzten Jahr habe ich sehr lange mit dem Kollegen gesprochen, der uns als Referendar nach London begleitet hat. Das hat meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Er hat mich ganz offen gefragt, ob ich mich als „Kopie“ verstünde, Fachleiter, Lehrbuchautor etc. Der Gedanke war mir noch nie gekommen, die Vorstellung hat mich erschreckt.
    Aus beruflichen Gründen habe ich in den letzten Jahrzehnten beruflich irgendwann mit allen, die mit E.W. das Curriculum von 1976 und dann die Richtlinien von 1982 erarbeitet haben, zu tun gehabt. Die haben ihn alle gefürchtet, er war hochkompetent und extrem durchsetzungswillig. Widerspruch wurde mit freundlicher Dominanz plattgemacht.
    Als ich der Frage nach der „Kopie“ nachgegangen bin habe ich tatsächlich zunächst viele Parallelen entdeckt, das liegt aber vielleicht am Job, man schreibt Aufsätze, Schulbücher, flirtet mit dem Job an der Uni (nichts für Lehrer!), aber dann doch NEIN, sein Umgang mit den Referendaren war mir immer abschreckendes Bild. Als ich mein erstes Seminar übernahm habe ich mir geschworen, niemals so mit jungen Kollginnen und Kollegen umzugehen, wie ich es von ihm in unserem Unterricht kannte. Ich hoffe, es ist mir gelungen, mein letzter Referendarjahrgang hat mir ein BVB Trikot mit der Nummer 10 geschenkt, mit einer sehr netten Rede – und da wusste ich, das ich mich in wichtigen Aspekten klar unterscheide.
    Ich profitiere bis heute von der fachlichen Kompetenz und dem was er uns vermittelt hat, menschlich habe ich da aber nichts mitgenommen, eher das Gegenteil.
    Beste Grüße,
    Hannspeter

  11. Michael Engelbrecht:

    Die Nummer 10 – ein gelungenes Geschenk! Ich kenne diese Referandarsgeschichten viel zu wenig, um mir ein Urteil zu erlauben. Wobei ich diese Polarität „fachlich sehr gut“ vs „menschlch grenzwertig“ nicht teile, weil sie mir schlicht zu grob ist. „Die Guten, die Bösen, und die Knallharten“. Ich war wohl in meinen Teenagerjahren eher von der sensiblen und romantischen Sorte, da hatten die Lehrjahre bei unserm Doc etwas durchweg Aufregendes an sich – und ich bin heilfroh, nicht bei den eurhythmischen Übungen einer Waldorfschule gelandet zu sein. Ich wurde weder geknechtet noch gebrochen oder gedemütigt. Traumatisch war für mich nur der Schreck, der mir in die Glieder fuhr, wenn er den Satz sagte: “ Bernd, hol die Hefte raus!“ Habe ich aber auch ohne Psychoanalyse bewältigt.


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