Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2013 14 Mai

Ein reissender Fluss

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | 1 Comment

Ich sass heute, als die Sonne rauskam, unter einer japanischen Zierkirsche, die so alt ist, dass das eigene Gesicht, für Aussenstehende, älter und immer älter wirken musste, als wär der Geruhsam-Verweilende auf ewig mit dem bejahrten Wurzelwerk verbandelt. Die rosa Kirschblüten verblassten dieweil, und einen weiteren Baum erblickte ich, als ich den Literaturteil der Süddeutschen Zeitung las, eine Seite, die mir so viel Spannendes zu erzählen hatte, wie sonst in einem ganzen Monat nicht. Mitch Epstein fotografierte Bäume in New York („New York Arbor“, Steidl Verlag). Riesige Bäume, spukige Bäume, Dinosaurierbäume. Die Amerikanische Ulme auf dem Foto wirkt noch weitaus seltsamer, als meine japanische Zierkirsche, das muss ich zugeben, so herrlich suchen die dicken Äste nach unmöglichen Drehungen. Das Buch scheint so angelegt, als würden die Bäume die Hauptrolle spielen in einem verschwiegenen, allenfalls windumrauschten Stadtbild. Kennen Sie den berühmten Tulpenbaum im Alley Pond Park in Queens, ich nicht. Oder die „Henkersulme“, wo man während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges Verräter aufgehängt haben soll? Natürlich sind die Bilder Schwarzweissfotografien, wie sonst will man die Schwingungen einer uralten Zeit mitbekommen. Manafonista Henning mag auf seinem letzten New York-Trip einigen von ihnen begegnet sein. In ein altes Amerika entführt auch die Besprechung des Romans „Dunkle Gewässer“ von Joe R. Landsdale, doch der liebe Rezensent macht nach verheissungsvollen ersten Sätzen zwei grobe Fehler: er erzählt zuviel von der Geschichte, und zu wenig von den Betriebsgeheimnissen des Romans. Der Rezensent wird zur Plaudertasche, und nennt den Roman schliesslich „wohl das Beste, was Lansdale je verfasst hat.“ Falsch, der gute Joe hat etliche brilliante Romane verfasst, die genauso brilliant Pulp-Elemente mit film noir-Fragmenten mischen, wunderbar gesponnenes Garn, das ohne postmodernen Schnickschnack alte Erzählkunst in reinster Form darbietet. Und als drittes Buch fiel mir auf dieser Seite eins von Franz Hessel ins Auge: „Der Kramladen des Glücks“; da wird viel geschwebt und flaniert, und man weiss gar nicht, bemerkt Herr Rüdenauer zu diesem Empfindsamkeitsschmöker aus dem Jahr 1912, „wo die Melancholie beginnt und die Unbeschwertheit endet.“ Der Protagonist des Buches, Franz Berendt, mischt sich unter die Münchner Boheme und bleibt ein Beobachter, der sich wenig traut und ganz gewiss einen an der Waffel hat, aber auf sympathische Weise. Den Alltag wie einen Traum zu beobachten, ist schliesslich auch eine Kunst, aber von fraglichem Wert, wenn man zwischendurch nicht mal vorübergehend wach wird. Ich erwachte zum Glück unter der Zierkirsche, als ein kühler Wind aufkam und meine diffusen Tagtraumbilder zerstreute, in denen eine Silberpappel, ein altes Kino in Schwabing und ein reissender Fluss vorkamen.

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