Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2012 28 Okt

Vom Lustwandeln auf einem leeren Fussballfeld

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | Comments off

 
 
Von dem Psychoanalytiker Georg Groddeck stammt der Ausdruck „Regressionen im Dienste des Ichs“, womit er auf Alltagshandlungen zielte, die nicht gerade von enormer Reife und Weisheit zeugen, aber zu den kleinen Dingen zählen, die das Leben in Schwung halten und die wagemutige  Konstruktion unseres Egos ganz sachte stabilisieren. Beispiele: Comics auf dem Klo lesen, spät abends alte Jerry Cotton-Filme gucken, einer erotischen Fantasie nachhängen, Fotos aus der ersten Heimat schiessen. Diese Dinge haben keinen grösseren Mitteilungswert, ausser vielleicht, Sie liegen auf der Couch Ihres Analytikers, oder Sie wären Woody Allen und würden gerade am Drehbuch von „Manhattan“ schreiben. Kulturarbeiter sind Menschen, die sich vorzugsweise den schönen und wahren und erfundenen Dingen zuwenden, sie bevorzugen eine ausgefeilte Sprache, hohen Anspielungsreichtum, sie öffnen Referenzsysteme und spielen mit dem weiten Horizont ihres jeweiligen Spezialgebietes. Spannend, wie wichtig sich mitunter Menschen nehmen, die mit primär unnützen Dingen wie Kunst befasst sind.

Eine besondere Knalltüte erzählte mir mal lang und breit, wieso die Musik von Arvo Pärt eine billige Simulation mittelalterlicher Klangmodelle darstelle. Meine Einwände behandelte er wie flüchtige Satzzeichen, die ihm ein kurzes Atemholen erlaubten, um dann gönnerhaft seine Sicht der Dinge weiter auszubreiten. Er liebte den Ton seiner eigenen Stimme, und normalerweise hätte ich ihn rasch mit der gebotenen Arroganz umterbrochen, und ihm mitgeiteilt, meine Friseuse wollte mir jetzt unbedingt einen blasen, aber hier hatte ich einen aus der obersten deutschen Kulturriege am Telefon, und diese Erfahrung wollte ich mir einfach mal geben. In einem anderen, und ich versichere, wahren Fall, sprach ich mit einem Kulturarbeiter, über dessen Drogenkonsum ich nicht genau informiert bin, aber ich tippe auf Koks bis in die Haarspitzen, über eine estländische Folkgruppe. Er fragte mich , ob man zu der Musik, die er bislang nur flüchtig gehört habe, mit 200 über die Autobahn brettern könne, und ob man bei einer solchen, eher kammermusikalischen „Färbung“, auch guten Sex haben könne. Ich erklärte ihm, dass man zu diesen engelsgleichen Stimmen ganz wunderbaren slow-motion-Sex haben könne, was er bitte nicht mit „Blümchensex“ verwechseln möge; und auf der A1 würden einen diese Mädels selbst bei 220 auf dem Tacho ganz locker ins Kissen drücken. (Immerhin ein Beispiel für Regressionen, wenngleich nicht für einen besonders sympathischen Zeitgenossen.)

Wenn Kulturarbeiter gut sind, machen sie Lust auf neue Erfahrungen und predigen nicht nur denjenigen, die eh schon bekehrt sind, wo immer auch zu. Selten berichten Kulturarbeter mit einem Anflug von Selbstironie von ihren Regressionen im Dienste des Ichs, und dabei laufen einige besonders aufgeblasene Exemplare in eine gefährliche Falle. Im Zuge ihrer zwar höchst subjektiven, aber irgendwie erlesenen Sicht auf die Dinge, bauen einige Vertreter dieser Spezies ihr Selbstwertgefühl ein bisschen zu sehr auf den Fundamenten ihres vermeintlich profunden ästhetischen Urteilsvermögens auf. Schnell erleiden sie narzisstische Kränkungen, wenn jemand mal mit einem Schneeball eine Fensterscheibe ihres Elfenbeinturms zerdeppert. Ich weiss natürlich, dass ich hier selbst im Glashaus hocke. Es ist allerdings schlicht hilfreich, wenn man gerade mal aus eisigen Höhen zurückgekehrt ist, wo man in einer Blockhütte Viola-Solo-Stücken von Ligeti gelauscht hat, oder Sun Ra auf einen fernen Planeten gefolgt ist, sich all der zauberhaften Regressionen im Dienste des Ichs bewusst zu bleiben. So werde ich beispielsweise in der kommenden Woche den neuen Bond-Film sehen, verschwundene Orte meiner frühesten Kindheit besichtigen, die Weihnachtsplatte von Tracey Thorn hören, im Auto lauthals mit Neil Young „Walk Like A Giant“ singen, mit meiner Lieblingstürkin über Waffelrezepte plaudern (running gag!), lustvoll in Berichten zum Schneeballgestöbersieg meiner Borussen in Freiburg versinken, und im leeren Fussballstadion der Hombrucher an der Deutsch-Luxemburger Strasse traumverloren über den Rasen schleichen.

Und weiter, immer weiter. Werde die alten Strassen noch einmal gehen, kurz anhalten, wo wir den Helge abholten, dessen Vater gerade gestorben war. Dass  ich mich an den Namen noch erinnern kann. Margarete Scheibenhut war mein Schwarm mit acht, lustiger Name, woll? Aber ich kam nicht mal in die Nähe ihres Poesiealbums. Mit zehn Lenzen schrieb ich auf ein Löschblatt, „Ich liebe Jutta Kortmann“, und der doofe Peter übergab es der Lehrerin, Frau Oel fragte, ob das von mir stamme; ich hatte keine Traute und stritt das ab, alles nur peinlich. Vielleicht wäre ich mutiger gewesen, wenn ich zu dem Zeitpunkt schon die Single der Stones geklaut hätte, „Get Off Of My Cloud“. Nicht gerade ein Liebeslied, aber eine gute Dröhnung für romantische Jungs. Für kurze Zeit war ich ein Ladendieb (Singles, Schokolade) und  lag einmal nachts neben den Bahngeleisen, wollte den Zügen hinterher in die Ferne, voller Brennesselstiche. Die Liebe meines Lebens hat einen anderen Namen, aber ich darf ihn nicht singen und sagen hier, weil ich dann ein Maulheld wäre. Kein Name in diesem sich herumtreibenden Text ist frei erfunden, und der unausgesprochene ist der am meisten geflüsterte. Ich übe schon den Cappuccino-Song. Zwei Akkorde, kein Kitsch, und der Himmel so nah wie fallende Blätter. Reiner Oktober, es leuchten die hintersten Winkel taubengrau.
 
 

 

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