Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2011 26 Jun

Bob Dylan in Mainz

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | 1 Comment

So seltsam er auch die elektrische Orgel traktiert, fernab aller Virtuosität: Konzerte mit Bob Dylan bleiben ein Ereignis. Und so ausgewrungen BLOWIN´IN THE WIND am Ende der Zugabe inszeniert wird, so genial ist die Darbietung von TANGLED UP IN BLUE: da bellt er wie ein geschlagener Hund im Kellerloch. Und während dieser 100 Minuten, die akustische und elektrische Felder und mindestens fünf Jahrzehnte durchschreiten, gibt es immer wieder diesen Zauber, wenn der Mann seine Songs, seine langen Erzählungen, ausbrütet. Erinnerungsseligkeit will nicht aufkommen – dafür destabilisiert er jeden Anflug von Gemütlichkeit. Die Materialien liegen roh da, Blues und Country und Folk, und Rock. Wir haben den Mann im Hut bestaunt, und ihm gelauscht, ohne Andacht, aber seltsam ergriffen. Wow!  „Everybody´s making love tonight, or else expecting rain“. Lesen Sie die vorzügliche Konzertbesprechung von Michael Werner (Stuttgarter Zeitung) im Kommentar 1…

This entry was posted on Sonntag, 26. Juni 2011 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

1 Comment

  1. Michael Engelbrecht:

    Michael Werner in der „Stuttgarter Zeitung“: Mainz – Seine erste Bob-Dylan-Platte hat sich der Verfasser dieser Zeilen (kurz: VdZ) vor bald dreißig Jahren gekauft. Die Entscheidung fiel aus rein ökonomischen Gründen auf die 1978 erschienene Live-Platte „Live at Budokan“: Da waren für vergleichsweise wenig Geld jede Menge Lieder drauf – und vor allem all jene, die Claudi damals so schön am Lagerfeuer zur Gitarre sang. Der VdZ, der damals ein Bub war und ein bisschen in Claudi verliebt, legte die Platte auf – und war bitter enttäuscht.

    Denn alles war anders: „Don’t think twice, it’s all right“ zum Beispiel, das Claudi versonnen gab, war ein herb zerhackter Reggae. Der VdZ legte die Platte erst Jahre später zum zweiten Mal auf, als er zum ersten Mal glaubte, die Pubertät überwunden zu haben. Da erst merkte er, wie genial diese Momentaufnahmen stetig weiterlebender Songs waren – und wie wunderschön. Seitdem hat der VdZ alle Platten von Bob Dylan gekauft und viele seiner Konzerte gesehen, zuletzt jenes am vergangenen Samstag im restlos ausverkauften Mainzer Volkspark, das erste von zwei Deutschland-Gastspielen Dylans in diesem Jahr.

    Dylan widmet sein Keyboard zum Turngerät um

    „Don’t think twice, it’s all right, das zweite Lied des Abends, ist nun eine wonnige Geisterbahnfahrt – mit gemütlichem Anschleichrhythmus, aber gespenstisch zerfurcht von der effektvoll implodierenden Stimme des neuerdings Siebzigjährigen. Dylan widmet dabei sein Keyboard zum Turngerät um; er lehnt sich drauf, federt, juxt und tänzelt, als baldowere er tatsächlich eine ironische Reminiszenz an den Rollator aus. Dies wird das heiterste, ja das ausgelassenste Dylan-Konzert, das der VdZ je gesehen hat – und auf eine Art auch das energiegeladenste.

    Bob Dylan ist befreit in Mainz, auch von seinen Instrumenten. Sehr oft verlässt er seinen Keyboard-Ausguck und steht dann vorne am Bühnenrand, allein mit seinem schwarzen Hut und diesem einzigartigen, hochspannenden Trümmerhaufen von Stimme, während die sensationell trittsichere und überhaupt ganz ausgezeichnete Band das Instrumentale alleine besorgt. Gleich im dritten Song macht er diesen Ausflug, im beschwörend gebellten „Things have changed“, das er zum Schluss anderthalb Takte lang mit drei Mundharmonikatönen veredelt. Es ist, wie wenn man den Sturm schon riecht.

    Dylan hat der Düsternis Lebenslust abgetrotzt

    Hernach, bei „Girl from the North Country“ rupft Dylan lüstern die E-Gitarre. Dann rockt er, kernig, knackig, ehe er in der Mitte seines Konzerts „Tangled up in Blue“ mit zwei wahrhaftigen Mundharmonikasoli, irrwitziger Phrasierung und fideler Gestik am Bühnenrand als ganz große Miniaturoper gibt. Nun kulminiert Dylans unbändige Energie auf beglückend sinnliche Weise: Wenn er die einzelnen Worte dieser Verzweiflungsode förmlich erbricht, glaubt man, die Intensität, mit der Dylan sein Lied auslebt, sei nicht mehr steigerbar. Aber wenig später gibt er „Desolation Row“. Da steht er wieder am Keyboard, und es hat beinahe etwas Verschmitztes, Verschwörerisches, wie Dylan röhrt, dass eine gewisse Cinderella im „Bette Davis Style“ ihre Hände in die Hosentaschen steckt.

    „Everybody is making love tonight, or else expecting rain“, singt Dylan in diesem Lied. Und er lässt in Mainz keinen Zweifel daran, dass er es vorzieht zu lieben: Mit welch ungezügelter Freude er in diesem Song seinem Keyboard ein simples, aber massives Solo entlockt! Wie ungetrübt klar er gleich darauf in „Thunder on the Mountain“ sogar seine eigene Stimme neu erfindet! Mit welcher Lust er in diesem Lied sein Keyboard und Charlie Sextons Gitarre Pingpong spielen lässt! Wie berückend tief er sich in seine „Ballad of a thin Man“ versenkt! Wie er schließlich in seine beschwörend zelebrierte Hymne „Like a Rolling Stone“ eine unglaublich naheliegende, eine geradezu kinderliedhafte Melodie rammt, die der Verfasser dieser Zeilen noch nie zuvor gehört hat.

    Der entfesselte Bob Dylan hat sich selbst und sein Publikum zwei Stunden lang mit all seiner Präsenz in einen einzigartig reichen Liederkosmos mit Sechziger-Jahre-Schwerpunkt katapultiert. Er hat der Düsternis Lebenslust abgetrotzt. So viel Überschwang hat er investiert, dass er ganz vergessen hat, seine Band vorzustellen. Auch das hat der VdZ noch nie erlebt, auch nicht, dass jemand seinen Zenit über Jahrzehnte hinweg zu dehnen vermag!


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz