Zu Ruth Schweikert, „Augen zu“
Ammann Verlag, Zürich, 1998, erste Auflage; das Titelbild zeigt Paula Modersohn-Beckers Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag von 1906
Im Oktober 2025 gab es im Literaturhaus Salzburg die Veranstaltung „lesenswert“: Wir waren an diesem Abend vier Autor*innen, die Lieblingsbücher mitbrachten – solche, die „lebensbegleitend wurden (…) Reibebaum oder Grund, weiterzumachen und seinen Stil ein Leben lang zu schärfen“ (aus dem Ankündigungstext von Christoph Janacs).
Bei mir war das „Augen zu“, das zweite, 1998 erschienene Buch der Autorin Ruth Schweikert, dessen Erzählhaltung mich über viele Jahre beschäftigt und begleitet hat. Nach der ersten Lektüre Anfang der Nuller-Jahre, zu der ich vermutlich über eine Rezension in der Zeitung gelangte, hatte ich alle verfügbaren Bücher zusammen gesucht, die ich von Ruth Schweikert zu lesen fand:
Ihr Debüt, der Erzählband „Erdnüsse, Totschlagen“ von 1994; bald darauf, 2005, erschien ihr drittes Buch „Ohio“, ein Roman; dann 2015 „Wie wir älter werden“ und schließlich 2019 ihr letztes, eine durch ihre Krebserkrankung motivierte, autofiktionale Erzählung „Tage wie Hunde“ – die Autorin starb 2023 mit 58 Jahren; posthum ist 2025 noch eine Sammlung mit Erzählungen, Essays und Kollumnen erschienen: „Fallen sie nicht. Fliegen sie lieber“.
Aber zurück zu „Augen zu“: An dem Buch fasziniert mich, dass ich in das Lebensgefühl der Protagonistin Aleks hinein gezogen werde, ohne viel Konkretes von dieser Figur zu erfahren. Die aufeinanderfolgenden Szenen fühlen sich an wie ein Geschiebe, und das erzeugt eine eigentümliche Spannung, die durch das Buch hindurch nicht nachlässt. Der Text verhält sich wie ein Strom, der dicke Brocken mitschleift, die im Rhythmus des Fließens klackern.
Beim Wiederlesen des Buches fühle ich mich erneut in einer gedanklichen Achterbahn, aufregend ist das und meine Neugier geschärft. Denn kaum ergibt sich mit einigen Worten ein Sinn im gelesenen Satz, führen mich die folgenden Worte in einer unerklärlichen Drift wieder davon weg – und am Ende eines Absatzes komme ich jedenfalls nicht dort heraus, wo ich es erwarte:
„Zürich, Freitag, sechzehnter Juni 1995, neun Uhr fünfzehn, es regnete sanft auf die Dachterrassen und Satteldächer der Stadt, auf die neunzehn durchsichtigen Lion’s King-Regenschirme jener Erstkläßler, die in Zweierreihen obligatorisch unterwegs waren zur Schulschwimmanlage in der Besenrainstraße, auf die Gräber im Friedhof Nordheim, auf plattgetretene, zahnschonende Kaugummis in den Fußgängerzonen, durchs offene Schlafzimmerfenster auf die beiden Gesichter, fast reglos atmend, eines nicht mehr ganz jungen Mannes, Raoul Felix Lieben, und einer haargenau dreißigjährigen Frau, Aleks Martin Schwarz, die dreizehn Stunden später ein gesundes Kind zeugten, das namenlos starb und vor seiner Geburt.“ (S. 7)
Beim Wiederlesen fällt mir auch auf, dass Ruth Schweikert gleich vom Beginn des Textes an immer neue Details in den geschilderten Szenen aufgreift und so weitere Sinn-Stränge in ihre am Ende sehr komplexen Textgeflechte einwebt, die beim Lesen mehrstimmig mitschwingen, unvermutet wieder auftauchen und weitergeführt werden – bis am Ende ein Gewebe entstanden ist, das von verschiedenen Seiten aus zugänglich ist. Mit fortschreitender Lektüre tun sich einzelne Bedeutungs-Gefüge auf, aber kein Ganzes; es gibt auch keine Auflösung oder Herleitung der Geschehnisse.
In „Augen zu“ ist es wie im echten Leben auch: Es tun sich Fragen auf, die wir mit einer gewissen Notwendigkeit weitertreiben, oft nur stück- oder schrittweise. Mit einer plötzlich auftauchenden, lang schon ersehnten Antwort kehrt nicht etwa Ruhe ein, sondern es tut sich gleich eine nächste Frage auf.
Wie wir schon gehört haben ist der Kern und Ausgangspunkt von „Augen zu“ der dreißigste Geburtstag der Künstlerin Aleks, der sechzehnte Juni 1995 – nur hier bilden vergangene und zukünftige Handlungsstränge einen gesicherten Zusammenhang. Darüber hinaus bewegt sich der Text vorwärts und auch wieder rückwärts, setzt an verschiedenen Stellen mit aufgelassenen Fäden noch einmal neu an. Wie nebenbei sind wir Leser*innen andauernd mit einer Fülle von Bedeutungen beschäftigt, die uns vom eigentlich Erzählten (was das sein soll, kann man natürlich fragen) weg- und dann wieder hinlenkt – wie Aleks und auch ihr Lebensgefährte Raoul den plötzlichen Coups de foudre – das bedeutet übersetzt ungefähr so viel wie ‚Liebesblitze‘ – ausgeliefert sind, niemals sicher sind davor.
Denn Aleks neigt dazu, sich plötzlich und haltlos zu verlieben, sie weiß es selbst – und auch Raoul sagt es ihr am Ende des Buches. In dieser Schlussszene verwebt Ruth Schweikert Aleks Gedanken in die Erzählhandlung, an ein künstlerisches Experiment von Sophie Calle und Greg Shephard, das wie in einem Musikstück das Thema von Aleks und Raoul vorwegnimmt und variiert: „Ich möchte dich heiraten, sagte Aleks, jetzt auf der Stelle sofort, und Raoul zog eine kleine Schachtel aus der Innentasche seines abgenutzten Jacketts. Raouls und Aleks’ Kleider alterten schnell, beide waren sie auf verschiedene Weise nachlässig im Umgang mit Dingen, in ihren Kühlschränken verwelkten Salate, an Raouls Hemden sprangen die Knöpfe ab, wenn er sie zum ersten Mal trug, Aleks ärgerte sich zehnmal über Kaffeeflecken auf dem Küchenboden, bevor sie die Energie aufbrachte, mit dem Putzlappen darüberzufahren, den sie längst in der Hand hielt (…)
In Aleks Hand lag eine wunderschöne Herrenuhr mit einfachen klaren Linien. Sie ist genauso alt wie du, sagte Raoul, und mindestens noch einmal so alt wird sie werden, hat mir der Uhrmacher versichert, noch einmal dein ganzes bisheriges Leben, länger wahrscheinlich, als unsere Ehe halten würde, die ich nicht eingehen kann. Wenn wir zum dreißigsten Geburtstag unserer Tochter uns treffen, lebst du längst mit einem anderen Mann zusammen, in den USA zum Beispiel mit einem aufgedunsenen Astrophysiker, und jeder Blick auf die Uhr an deinem gealterten Handgelenk wird dich ein wenig an mich erinnern.
Sentimentaler Bullshit, sagte Aleks, und unterstell mir bloß nicht deine eigenen Phantasien, du triffst eines Tages in der Straßenbahn irgendeine konvertierte asiatische Jüdin und heiratest sie drei Wochen später.“ (S. 154/5)
Jederzeit kann es also geschehen, legt Ruth Schweikert uns nahe, dass sich die Tektonik unserer Leben grundsätzlich verschiebt: In „Augen zu“ hält dieses Bewusstsein die beiden Protagonist*innen wach und lebendig.
Unsere Unvollkommenheit macht uns wehrlos gegen die Einwirkungen des Schicksals – da kann Aleks in ihren Bildern noch so frenetisch dagegen anarbeiten. Sie schluckt Ritaline, um die eigene Müdigkeit zu überlisten, sich zu zwingen, das Beste aus sich herauszuholen: „Aleks war immer wieder überrascht, was manche Betrachter in ihren Bildern sahen; der Antrieb für ihre Arbeit schien ihr bloß ein Mangel zu sein; geboren aus der Unfähigkeit, sich selbst zu begreifen, die eigene Geschichte und die Geschichten dieser Welt.“ (S. 91)
Die eigene Geschichte meint zum Beispiel: Die alkoholkranke Mutter, die Aleks gegen die jüngeren Brüder abschirmt „wie hinter bruchsicherem Glas“ (S. 51) – ihr Aufbäumen seit der Pubertät gegen Rückzug und Selbstzerstörung der Mutter in einem überwachen Gegenentwurf.
Der Philosoph Walter Benjamin ist ein wichtiger Bezugspunkt für Ruth Schweikert: In Vorausgesetzt, dem Prolog von „Augen zu“, erfüllen sich die Kinderwünsche des namenlosen Ichs zwei Jahrzehnte später; trotzdem bleibt das Unglück. Zwei Sätze von Benjamin fallen dem Erzähl-Ich dazu ein:
„Die Fee, bei der er einen Wunsch frei hat, gibt es für jeden. Allein nur wenige wissen sich des Wunsches zu entsinnen, den sie taten; nur wenige erkennen darum später im eigenen Leben die Erfüllung wieder“. (S. 6)
Ist also das, was wir für unser Schicksal halten, nur die Verwirklichung unbewusster Wünsche, deren Tragweite wir unterschätzten?
„Augen zu“ fordert uns zu solchen Fragen heraus: Sträuben wir uns gegen die an uns herangetragene Zwangsläufigkeit, mit der aus den Zutaten „Aleks Charakter“ und „Vorhersagen“ Ereignisse und auch ein Schicksal werden?
Das Ausgeliefertsein an Umstände, das uns womöglich nur zu vertraut sind?
Und auch die Einwirkungen der Eltern- und Großeltern, deren Handlungen und Launen dazu führten, dass sich Aleks am 16. Juni 1995 genau dort befindet, am Dreh- und Angelpunkt des Buches, das flicht Ruth Schweikert wie nebenbei mit ein.
Aber was ist Ursache und was Wirkung?
Bemühen wir uns, Wechselwirkungen auf die Spur zu kommen, entziehen sich uns letztlich die Auslöser und das Zusammenspiel – und die Frage, ob etwas plausibel ist, kommt gar nicht erst auf: Es sind immer diese Texte, die mich faszinieren. Es gibt nicht den einen Grund etwas zu tun – wir sind ausgeliefert an unzählige Zufälle und Gelegenheiten, die wir ergreifen können – vielleicht bemerken wir sie nicht einmal. Vielleicht sind wir gerade in einem Ausnahmezustand und tun etwas, was wir sonst nie getan hätten – und so verläuft unser Leben in eben diese Richtung und nicht in die andere.
Unser sogenannter freier Wille, das hat schon Sigmund Freud formuliert, ist eine gnädige Selbsttäuschung, damit wir das gut finden, was wir haben.
Eines der eindrücklichsten Bilder in „Augen zu“ ist so auch der wiederholte Besuch der jugendlichen Aleks bei einem Psychoanalytiker – sie fährt dort hin, um zu schweigen. Und dieses Schweigen spannt einen Raum auf, der nur Aleks gehört.
Mir fällt dazu ein Satz der Autorin Judith Hermann ein, die in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen eine Rezension zitiert, die ihr vorwirft, sie habe nichts zu erzählen. „Ich habe nichts zu erzählen“, entgegnet Judith Hermann, „weil ich das, was ich eigentlich zu erzählen habe, nicht erzählen kann.“ („Wir hätten uns alles gesagt“, Frankfurter Poetikvorlesungen, S. 99)
Geht es hier um eine moralische Rücksichtnahme?
Oder um die Unmöglichkeit, mit Worten vorzudringen und zu erfassen, um eine Grenze, die in der Sprache selbst liegt (für etwas, was außerhalb bleibt)?
Genauso wie es umgekehrt „Erzählräume (gibt), die sich auftun mit dem ersten Wort und mit dem letzten sich verschließen, als wären sie in der Sprache selbst verortet.“ (Ruth Schweikert, „Tage wie Hunde“, S. 182)
Erzählung und Sprache, überall lauert ein Mangel – Kein Wunder, dass die Autorin bekennt: „Zu schreiben war mir noch nie leichtgefallen“ („Tage wie Hunde“, S. 145)
