… und etwas Speed.
Es war mal wieder soweit – man musste sich eine halbe Nacht um die Ohren schlagen, um den musikalischen Zeitgeist wenigstens annähernd zu erfassen. Besonders interessant sind hier aber nicht die angebotenen Performances – von Liedern kann man mittlerweile nicht mehr sprechen, eher von Multi-Media-Events nebst akrobatischen Leistungen der Sänger – sondern die Strategien, die ausgetüftelt werden, um an die Spitze zu kommen. Dabei bemühte man sich viele Jahre lange um eine gewisse Uniformität mit ein paar Ausreissern – Stephan Raab und Guildo Horn, die den Narrenbonus bekamen und Conchita Wurst, der der Exotenbonus zum Sieg verhalf und der welpenäugige Salvador Sobral mit dem Romantikbonus. Ansonsten Einheitsbrei aus Techno- und Elektropop, Hiphop und Anmutungen von Rap mit beeindruckenden Laserorgasmen.
Heuer setzte man offenbar eher auf Diversität, die Nummernrevue bestand aus deutlicher unterscheidbaren Songs mit Ausflügen in die Welt der Oper, des Chansons, der Romantic-Ballade, die Welt der Halbseide und humorigen Auftritten, man pries den Espresso und die Sauna, manchmal gab’sogar etwas zum Mitsummen, das hatte man selten. Stimmliche Qualitäten natürlich bei dem ganzen Playback – Zauber schwer zu beurteilen. Deutschland belegte mit einer etwas farblosen Vorstellung einen verdienten 15. Platz, solider Clubsound in kühlem Schwarzweiss-Ambiente zum Abfeiern, das war auch schon mal schlimmer. Diversität fand sich auch hinsichtlich der geschlechtlichen Identität vieler Teilnehmer, die in das bekannte Zweierschema nicht mehr hineinpassten und das fröhlich demonstrierten, da hat man sich dieses Jahr etwas mehr getraut und eine zahlenmässig zu hohe Konfektionsgrösse ist mittlerweile auch kein Hindernis mehr für einen Auftritt, das stimmt milde, wenn man nebenbei an Wencke Myhre und Peggy March und andere gelackte Weiblichkeiten denkt. Der erste Platz, der eigentlich den Bühnentechnikern gebühren müsste – insbesondere für den blitzartigen Umbau in der kurzen Zeit zwischen den Auftritten, da werden wahre Wunder vollbracht – errang dann ein österreichischer Countertenor (ein Tenor der stimmlich den weiblichen Sopran erreicht, früher hätte man ihn des Eunuchentums bezichtigt), der auf einem havarierten Schiff im Fliegenden-Holländer-Ambiente eine irgendwie misslungene Liebe besingt und offensichtlich gegen den Sturm anschreien muss. Pavarotti auf Helium mit ein bisschen Speed, stimmlich durchaus überzeugend, textlich auch nicht schlecht (I’m an ocean of love, but you’re scared of water, hoher Wiedererkennungswert sowohl in der einen als auch der anderen Polarität), insgesamt eine Wagner-Anmutung.
Aber zum Ende war meine Fähigkeit, Überdrehtheit und Theatralik zu inhalieren und zu containen dann doch erschöpft, insbesondere bei der Punkteverleihung, die von den Sängern und ihrer Fanbase mit Geschrei, Gefuchtel und Gewedel mit der Landesfahne kommentiert wurde und die in die Kamera geblasenen Luftküsschen dürften langsam die stabilste Optik ruinieren. Und ich machte mir beim Zubettgehen noch ein paar warme Gedanken über das Verhältnis zwischen zwischen Gefühl und übertriebener Gefühlsdarstellung – meines Erachtens komplementär konfiguriert – und was mit Musik und Gesang so geschehen kann, wenn sie dem Druck eines Rattenrennens und Herausstechens ausgesetzt werden – sie wird nicht besser, sondern lauter und eine chronisch eventhungrige Zuhörerschaft wird das auch künftig goutieren. Ob ich das nächstes Jahr noch packe? Und was wird dann erscheinen? Der Gralsritter mit Schwan? Siegfried und der Drache im Duett? Beim Einschlafen dachte ich noch an die weisen Worte des ESC-Siegers von 2017 – Salvador Sobral bei der Preisverleihung: „Music isn’t fireworks, music is feeling!“ Okay, das war auch die Masche, auf der er ritt, aber trotzdem … sowas bleibt offenbar in den Hirnwindungen hängen. Ob doch was dran ist?