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2022 23 Jun

Bahn & Wetter

von: Olaf Westfeld Filed under: Blog | TB | Tags: , , , , , 11 Comments

Über Bahnfahrten ist so ähnlich wie über das Wetter zu reden. Jeder und jede saß schon einmal in einem verspäteten Zug, gibt die Anekdote gerne zum besten, aber ohne die zehn Fahrten, bei denen die Züge ganz unspektakulär pünktlich waren, zu erwähnen (okay, wahrscheinlich kommen auf eine Verspätung nur fünf pünktliche Züge). So ist es auch völlig uninteressant, dass ich gestern, am heißesten Tag des Jahres, für eine zwei Stunden Strecke gut vier Stunden in unterschiedlichen Regionalbahnen und auf verschiedenen Bahnsteigen verbracht habe, mit Menschen, die offensichtlich das erste Mal seit Jahren einen Zug betreten haben und zum Beispiel nicht geschnallt haben, dass die Türen nicht schließen, wenn man zu nahe dran steht, dass ich die Bahnhöfe noch nie so voll gesehen habe und dass ich auf der letzten Teilstrecke eine Person getroffen habe, die ich aus meinem Arbeitsumfeld als ewige Klageführerin kenne und der ich die letzten 90 Minuten meiner Fahrt ausgeliefert war. Mit schreienden Kindern, Junggesellenabschieden und lauten Baustellen und ungetragenen Masken halte ich jetzt niemanden groß auf, habe ich gestern aber alles erlebt.

Ist auch egal, so ein 9 Euro Ticket ist ja irgendwie ein geschenkter Gaul, dem will ich nicht zu lange ins Maul schauen. Es hatte sein Gutes: Zeit, die zweiten 60 Seiten von „Gentzen oder Betrunken Aufräumen“ von Dietmar Dath zu lesen. Sehr gut, angenehm verwirrend, ein Labyrinth: die Lektüre ist ein wenig so, als wenn man in einem Blog stöbert – immer wieder kommen neue Einträge (Kapitel), werden neue Themen angeschnitten, der Gesamtzusammenhang erscheint derzeit noch recht lose. Bis jetzt bin ich sehr angetan.

Als ich dann einigermaßen fertig mit allem zu Hause ankam, war an das vorgenommene und notwendige Arbeitspensum nicht mehr zu denken. Passte gut, hatten die Paketboten doch zwei Schallplatten bei den Nachbarn abgegeben. Mit dem Album „A Light For Attracting Attention“ hatte ich gerechnet. The Smile sind ein Bandprojekt von Thom Yorke und Johnny Greenwood von Radiohead, zusammen mit einem Drummer von Sons Of Kemet, Tom Skinner. Ausdifferenzierte, ziselierte Klanglandschaften, könnte auch als Radiohead Album durchgehen. Mir gefiel das beim zweiten, flüchtigen Hören heute genau so gut wie beim deep listening gestern. Auch hier bin ich sehr angetan.

Eine Überraschung war dann das zweite Paket: „A Black Man‘s Soul“ von Ike Turner. Ich hatte das Album vor zwei Monaten bei einem Freund gehört, war begeistert und er hat mir nun recht günstig über Ebay oder Discogs ein Exemplar gesichert. Hier ist das Klangbild nicht audiophil, ganz im Gegenteil. Ich vermute, die Stücke sind überwiegend auf Tour in wechselnden Studios mit mäßiger Technik entstanden. Zwölf Instrumentals, die meisten werden nach knapp drei Minuten zügig ausgeblendet, Schlagzeug und Bass sind recht laut abgemischt, ansonsten sind Bläser und Gitarre zu hören, ab und an mal ein Moog. Aber ziemlich uptempo und uplifting, unverschämt funky und so gut gelaunt, dass es auch nach einer anstrengenden Bahnfahrt ansteckend ist.

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11 Comments

  1. Lajla:

    Meine etwas andere Hitliste stammt aus dem Jahrhundertroman von Dietmar Dath, an dem er 10 Jahre geschrieben hat und ich sehr lange darin gelesen habe. Dietmar Dath schreibt mit Unterbrechungen für die FAZ. Dort habe ich ihn auch vor langer Zeit entdeckt. In seinem dicken Sciencefictionroman geht es um die Suche nach einer neuen Gesellschaft, die auf der Verbindungsbasis von Literatur (Goethe‘s Faust) Philosophie (Hegel), dem Mathematikgenie (Gentzen) zu entwerfen möglich wäre.

    Ich bin im Laufe der Lektüre auch den von ihm erwähnten Musiktiteln nachgegangen. Das war sehr spannend für mich.

    Hier die Titel der Songs und ihre Interpreten:

    The Clash: This is England auf Cut the Crap 1985
    The Clash: White Riots auf The Clash 1977
    The Clash: Somebody got murdered auf Sandinistal 1980
    Sudan Archives: Iceland Moss auf Athena 2019
    Rhihanna: Desperado auf Anti 2016
    Laurie Anderson: Ramon auf Angels 1989
    Björk: Stonemilker auf Vulnicura 2011
    Janelle Monāe: Cybertronic Purgatory auf Metropolis 2008
    Sex Pistols: Holiday in the sun auf Never mind the Bullocks 1977
    Luigi Nono: Post-Prae Ludium per Donau 1987
    Miley Cyrus: Can‘t be Tamed 2010

  2. Lajla:

    Olaf, dass du diesen Dath‘schen Wackerstein mit auf eine 9 EU Bahnreise genommen hast, Respekt Respekt.

  3. Michael Engelbrecht:

    In regards to that Ike Turner: it‘s always the impacts, and it may be an old radio tuning in tuning out, a damaged record, a noisy cassette. Magic finds its way.

    In regards to The Smile: i‘ll give it a night session soon. With Mr. Skinner in the band, i have highest expectations…

  4. Ursula Mayr:

    Früher konnte man auf Zugfahrten geruhsam den kompletten Proust mehrfach durchlesen. Seit diesem seniorenfeindlichen Ticket ist man nur noch beschäftigt einen nahenden Kreislaufkollaps zu verhindern.

  5. Lajla:

    Ich komme bald nach Deutschland. Warum ist das 9 EU Ticket seniorenfeindlich?

  6. Martina Weber:

    Die Züge sind überfüllt, Lajla. Wie in Tokio zur Rush Hour. Es gibt keinen Sauerstoff mehr.
    Vor einer Woche ist eine meiner Seminarteilnehmerinnen, die eigentlich mit der S-Bahn oder dem Regionalexpress zum Seminar fahren wollte, mit dem Intercity angereist, weil sie in den Regionalbahnen keinen Stehplatz mehr bekommen hat.

  7. Ursula Mayr:

    Weil Senioren und gesundheitlich Eingeschränkte nicht stundenlang stehen können, abgesehen von der Temperatur und vom Sauerstoff, Behinderte mit Gehhilfen oder Rollstühlen gar nicht mehr reinkommen, wobei auch Nichtbehinderte oft gar nicht mehr reinkommen bzw auch Bahnsteige geschlossen werden oder Züge wg. Überfüllung einfach durchfahren.

    Schon vor der Einführung des Tickets hatte ich in der privat betriebenen Linie Salzburg – München Probleme, bin erst 20 km in die Gegenrichtung gefahren um vielleicht einen Sitzplatz zu kriegen. Und wg Überfüllung kommt man auch nicht zum Klo, falls das überhaupt mal funktioniert. Bahnfahren ist jetzt nur noch was für gesunde Trainierte.

  8. Ursula Mayr:

    Von Familien mit kleinen Kindern gar nicht zu reden! (Grummel!)

  9. Lajla:

    Da hilft wahrscheinlich auch kein Tarzan Jodler, um gut durchzukommen.

    „Dann muss Jane bei Tarzan bleiben.“

  10. HDK:

    das 9 EURO Ticket ist ein erstklassiger Politfurz

    Der bisher heißeste Tag des Jahres war der 19. Juni – 36° C in Schwandorf.

    Der Zutritt mit dem Fahrrad in den Anschlusszug in Schwandorf wurde mit verwehrt. Ich musste eine Stunde auf den Folgezug warten. Es hätten auch 2 Stunden werden können, wäre der Fahrradstellplatz ein weiteres Mal besetzt gewesen.

    Der Zug nach Nürnberg ist eine gute Stunde unterwegs. Er hatte keine Klimaanlage – jedenfalls war keine in Betrieb. Zu öffnende Fenster gibt es in Zügen schon lange nicht mehr. Ist ja klar, denn sie wurden vor der Corona Ära hergestellt.

    Die Temperaturen im Zug lagen über 40° Celsius. Da weigere ich mich, die absurde Maskenpflicht zu erfüllen, zumal ich mich am Vorabend schnell (aber lange genug) getestet habe mit negativem Befund. Ich konnte also niemanden außer mich selbst gefährden.

    Um nicht zu dehydrieren, waren 1,5 Liter Trinkwasser schnell verbraucht. Weil man ja in Zügen ohne Maske essen und trinken darf, konnte ich vermeiden, von Maskenfundis zurecht gewiesen zu werden. Ich habe bis Nürnberg an meiner leeren Flasche genuckelt bei freier Nasenatmung.

    Nach 3 gehorsam ertragenen Pflichtimpfungen erfolgte im März ein absolut symptomlos verlaufener natürlicher Booster. Eine Dreifachimpfung in Jahresfrist, die eine Infektion nicht verhindert, halte ich für einen schlechten Scherz.

    Nun kann man mir vorhalten, dass ich die Reise ja nicht hätte antreten müssen. Es war aber ein seit fast einem Jahr geplantes Treffen der Überlebenden eines Studentenchores, den ich vor etwa 55 Jahren leitete. Ich wäre lieber mit dem Bayernticket unterwegs gewesen.

    Ich hatte kein Interesse, in meinem Reisebuch, das von Interessen handelt, zu lesen.

  11. Ursula Mayr:

    Neeiin … falsch!

    In der Bahn singen wir traditionsgemäss nur den Erzherzog-Johann-Jodler: „Wo i geh und steh tun mir d’Füss so weh …“!

    Da leeren sich die Abteile möglicherweise sehr zeitnah …


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