Manafonistas

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Jon Balke: Siwan

Es begann alles damit, dass ich die CD in meinen Player schob, auf dem Weg zwischen Arrecife und El Golfo. 23 Grad, spät nachmittags, und dann kam ein einsames „Wow!!!“
aus meinem Mund, als die ersten zwei Stücke von Jon Balkes neuem Werk vorüber waren. Ich kenne die Musik des Pianisten schon lange, der früher bei „Masqualero“ spielte, später mit „Oslo 13“ Fusio Music und Nordafrikanisches aufregend mixte, und schliesslich mit seinem „Magnetic North Orchestra“ Wege aufzeigte, wie man Neue Musik, Jazz und Afrika ohne akademischen Kunstkrampf & Allerweltsklänge kombinierte.

SIWAN ist Jon Balkes abenteuerlicher Versuch, Parallelen hörbar zu machen zwischen Alter Musik aus Europa (Barock), al-andalusischen Traditionen (9. bis 15. Jahrhundert) und moderner Improvisationskunst. Dazu hat der 1955 geborene Pianist die idealen Spiel-gefährten an seiner Seite: den Trompeter Jon Hassell, den Violinisten Kheir Eddine M-Kachiche, den Trommler Helge Norbakken, ein norwegisches Ensemble mit versierten Kennern des Barock und – vor allem – die Sängerin Amina Alaoui aus Marokko!

Wie freigeistig die muslimische Kultur und Wissenschaft war, die in „Al-Andalous“ in gar nicht so grauer Vorzeit den Ton angab, kann man den alten Texten und Gedichten ablesen, welche die Grundlage bildeteten für diese Kompositionen. Jon Balke erinnert mit dieser Phantasie an eine Ära, die von der Inquistion gnadenlos verfolgt wurde – das „Ende vom Lied“ war, dass diese freizügige muslimische Geisteswelt (fernab der heute den Ton angebenden Fundamentalisten) heuzutage kaum noch erinnert wird. Dabei war ihr Einfluss, etwa auf die Renaissance, immens; die Bibliotheken von Cordoba horteten Wissenschätze ohnegleichen.

Wie sich auf SIWAN diese diversen Klangszenarien durchdringen, ist fabelhaft – die Musik bleibt stets melodisch, auch wenn sie ein Feuerwerk an rhythmischer Energie abfackelt oder einzelne feine Sphären ohne Eile auslotet. Die Wechselspiele zwischen der raumgreifenden Stimme der Marokkanerin und dem „Schlangenbeschwörer-Sound“ von Jon Hassell nehmen gefangen. Die Spiegelungen zwischen arabischen und barocken Figuren öffnen den Raum noch einen Spalt mehr. Seltsam genug, aber Jon Balke spielt nicht mit der postmodernen Trickkiste: SIWAN ist modern, alt, märchenhaft, verwirrend, überfliessend, transparent.

Als ich mit dem Wagen in El Golfo angekommen war – zuende gehört hatte ich die Musik
an diesen berüchtigten Vulkanklippen der Westküste Lanzarotes, deren Name mir gerade entfallen ist – nahm ich Platz im Fischrestaurant meines Vertrauens. Und dann passierte einer dieser sonderbaren Zufälle, wenn man die richtige Musik zur richtigen Zeit am richtigen Ort hört: ich las die beiliegenden Texte von SIWAN (die sowohl arabisch abgedruckt sind – viel Spass beim Volkshochschulkurs! – als auch auf englisch) und musste so sehr schmunzeln, als ich sich die Augen an folgende Zeilen hefteten:

“ A serene evening
We spent it drinking wine.
The sun, going down,
Lays its cheek against the earth, to rest … “

Nun, ich war allein, aber ein Glas Wein stand auf meinem Tisch, und die Sonne bereitete sich gerade auf ihren first-class-„westcoast“-Untergang vor. Ich blieb, bis es kühl wurde, stieg ins Auto und schob SIWAN ein. Die Musik funktioniert auch in Mitteleuropa,
habe ich später rausgefunden. Überall, wo „free spirits“ hausen … unglaublich gute Musik.

Michael Engelbrecht


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