on life, music etc beyond mainstream
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2017 4 Sep.
Manafonistas | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 2 Comments
2017 3 Sep.
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 1 Comment
In einem Text, der schon ein paar Monate alt ist (s. comment 1) mokiert sich ein gewisser Michael Rüsenberg, manchem Leser vom Radio bekannt, über die Entscheidung, Nadin Deventer, ab 2018, und für drei Jahre, das Jazzfest Berlin leiten zu lassen. Warum poltert da wohl jemand dermassen substanzarm drauflos, statt im Vorfeld etwas sauberer zu recherchieren? Natürlich hat Nadin Deventer reichlich kuratorische Erfahrungen gesammelt, kennt Kulturmanagement und Jazzszenen aus dem Effeff – ihr Lebenslauf lässt sie geradezu als Idealbesetzung erscheinen, als erste Frau in Berlin Festivalgeschichte zu schreiben. Aber Rüsenberg zieht es vor, in der leicht erbärmlichen Landschaft der eigenen Vorurteile rumzustromern, und dabei auf chauvinistische Beifallspender zu zählen, die den Jazz für eine Männersache halten. Da ist mal wieder die „Kölsche Jazzpolizei“ unterwegs, mit pseudorheinischem Humor, und herzlich wenig Sachverstand. Bert Noglik und Richard Williams, Freigeister im besten Sinne des Wortes, kenne ich gut genug, um zu wissen, dass sie Nadin Deventers Programm mit Vorfreude entgegensehen.
2017 2 Sep.
Ian McCartney | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Wandermüde | Comments off
„All stories are love stories.“
Robert McLiam Wilson (from the novel Eureka Street)
„All Stories Are True.“
John Edgar Wideman (From the story collection All stories are true)
The cover art for Wandermüde shows the gloves from a space suit placed on a mantelpiece, each palm facing decorative wallpaper. If there is a story here, it’s one that your mind instantly tells you, when your eyes see the juxtaposition and try to make sense of it. Or maybe you just get questions, like „are these gloves antiques placed there for fun in a bohemian living room from the past/future?“, or „are these gloves the gloves of someone who returned from space?“ or „are these gloves the gloves of someone about to go to space tomorrow“. Space. You’re already in space. Space is within you and without you. The gloves and the mantelpiece will soon be dust.
The first and most important thing to say about Wandermüde is that it is a work of great beauty. It may not be the most accessible of records – there are sustained notes, Ligeti-stylee ghostisms, corridor vibes, and in places a sense of epiphany and strangeness not seen outside of the closing scenes of Tarkovsky’s film Stalker or Russell Hoban’s novel Fremder. (I sent my copy of Fremder to Hoban’s publisher with a request for him to sign it. They said „sure“. Nothing came back. I emailed to ask what had happened. They replied that my hero was unwell. Nothing came back. My copy of Fremder is lost in space. My hero lives on.)
No point getting into the musicology of Wandermüde. Have a read at this Guardian article on accelerationism, (it’s a read alright!), take a breath, then listen to Deceleration. Or think of Florian Fricke and Popol Vuh and then check out Dark Pastoral. Wandermüde, like Fricke’s work, isn’t confined to some genre idea of prog or rock or drone/ambient. It moves in all directions.
2017 2 Sep.
Uli Koch | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Zeitreisen | 3 Comments
Der Synthesizer als Instrument übte schon seitdem ich einen Schallplattenspieler besaß und mir selber Platten kaufte eine unglaubliche Faszination auf mich aus. Sonst hat ein Instrument seinen Klang und ein guter Instrumentalist kann diesen etwas erweitern, beugen, hart oder sanft hervorlocken, aber es bleibt immer der Klang dieses einen Instrumentes. Beim Synthesizer ist alles anders: da wird der Ton je nach Modell durch unterschiedliche Algorithmen erzeugt und es gibt jede Menge Einflussmöglichkeiten ihn zu verändern, modulieren, ihn groß und weich oder scharf und hart zu machen und insbesondere so zu gestalten, dass da etwas herauskommt, was einfach so noch nie zu hören war. Genau das hat in der Anfangszeit, in der Synthesizer für den normalen Musiker erschwinglich wurden, auch die Art des Musikmachens stark geprägt. Nun gab es endlich die Möglichkeit etwas zu machen, was richtig neu war, die Hörgewohnheiten völlig auf den Kopf stellte. Und das halt nicht nur wie in dem Studio für elektronische Musik in Köln, das zwar einige der späteren Protagonisten stark beeinflusste, sondern im eigenen Proberaum. Und was in den 60er und 70er-Jahren noch einige experimentierfreudige Geister auf den Plan rief, ist heute aus der Musik kaum noch wegzudenken und hat fast alle Genres infiziert.
Good Vibration ist dieses mal nicht der Titel eines Albums der Beach Boys, die zu mögen ich stets gerne anderen überlassen habe, sondern der Titel einer im August zu Ende gegangenen Ausstellung im Musikinstrumenten-Museum in Berlin über die Geschichte der elektronischen Musikinstrumente. Und die beginnt weit vor der Synthesizer-Ära mit wunderbaren Instrumenten wie dem Theremin, dem Ondes-Martenot und dem Mixturtrautonium, auf dem Oskar Sala nicht nur bizarrste Suiten, sondern auch den Soundtrack zu Hitchcocks Die Vögel komponierte. Neben begleitenden Texten, die verschiedene Aspekte elektronischer Musik beleuchten, werden dann natürlich auch die ganzen Synthesizerlegenden vorgestellt bis hin zu den aktuellen Möglichkeiten das, was früher ganze LKW’s gefüllt hätte elegant in einem iPad unterzubringen – ein synthetisches Taschenuniversum ungeahnter Möglichkeiten, das mich auf eine Zeitreise zurück zu den ersten Momenten, wo ich als Jugendlicher endlich selber die Tasten berühren und an den Knöpfen drehen durfte und mangels passabler Anleitung schrittweise herausfinden musste, welche Auswirkungen jeder Poti, jeder Regler und jeder Schalter so hatte.
Wo damals ein Synthesizer war, war aber auch der Laser nicht weit. Das, was man heute als Taschenlaser zum gefahrlosen Herumleuchten oder als Pointer billig erstehen kann, war damals deutlich größer, hatte die Tendenz mitunter ziemlich heiß zu werden und hatte noch den Mythos des Gefährlichen, vom Preis ganz zu schweigen. Ein alter Schulfreund von mir aber hatte einen Laser und so probierten wir aus, was wir damit so anstellen konnten. Beispielsweise mit einer kleinen Ablenkeinheit, wo auf mehreren Elektromotoren aus Carrera-Autos, die wir individuell in der Geschwindigkeit regeln konnten Spielgelchen mit einer leichten Neigung aufgeklebt waren und die so entstehende Figur dann auf den nächsten rotierenden Spiegel warfen, so dass es möglich wurde phantastische Figuren damit zu zeichnen. Z.B. auf der uns sehr geeignet erscheinenden Hauswand des benachbarten Hochhauses, um unseren Freunden zu signalisieren, wo die Party gerade steigt. Der Effekt war grandios, nur leider fühlten sich die Nachbarn von dem neuartigen, „gefährlichen Laserstrahl“ etwas bedroht.
Der französische Elektroniker Tim Blake war einer der ersten, der sich mit einer Lasershow zu der Musik seines Projektes Crystal Machine auf die Bühne begab und nun ist dieses Frühjahr sein erstes Studioalbum Blake’s New Jerusalem mit einigen Bonustracks wiederveröffentlicht worden. Hier finden sich ohrwurmartige Songs in denen ein kleines Synthesizerarsenal die Hauptrolle spielt und die doch eine ganz eigene, originäre Färbung haben. Insbesondere der lange Titelsong entwickelt einen fast hypnotischen Sog und zapft Ebenen des Bewusstseins an, die zuvor verschlossen blieben. Einige der Songs haben dann später Eingang in das Oeuvre von Hawkwind bekommen, deren Mitglied er lange Jahre war. Sonst wirkte er noch einige Zeit bei der wundersamst anarchischen Band Gong mit und begleitete einige Projekte des französischen Komponisten Cyrille Verdoux.
Der zweite Reissue betrifft einen Meilenstein der elektronischen Musik: Klaus Schulzes Mirage. Er arbeitete an diesem Album als sein Bruder im Sterben lag und erklärt sich so rückblickend, dass dies vielleicht sein dunkelstes und kältestes Album geworden sei. Eine elektronische Winterlandschaft, kristallin, frostig, eisklar. Und auch nach 40 Jahren immer noch ein perfektes Album. Man sagte damals, dass weltweit eigentlich nur drei Musiker wirklich Synthesizer spielen könnten und Klaus Schulze war der erste, der dann dazugezählt wurde.
Mirage war seit Erscheinen ein Monolith für mich mit seinen beiden ruhigen, halbstündigen Stücken. Wenn mich auch heute noch jemand fragen würde, welches Stück Synthesizermusik man unbedingt gehört haben müsste, würde ich stets und ohne zu zögern Crystal Lake antworten, das in seiner kalten Eleganz und seiner hypnotisch dichten Atmosphäre ein zeitloses Highlight elektronischer Musik bleibt. Klebt man einen kleinen Spiegel auf den Basslautsprecher und lenkt dann einen Laser darüber auf eine Leinwand während Musik läuft, ist dies eine wunderbare Möglichkeit der Visualisierung. Vieles aber wird dann leider recht unansehnlich, wohingegen Crystal Lake wundervolle Figuren und Muster mit unzweifelhaft psychotropen Qualitäten zu erzeugen vermag.
Das Album wurde sensibel gemastert, was der Transparenz noch etwas mehr Tiefe gegeben hat und mit einem aus der Entstehungszeit stammenden Stückchen Filmmusik In cosa crede, chi non crede? das durchaus hörenswert ist, ergänzt. This Anniversary induces a massive time travel. A shift where the direction is not clear and I’m afraid it does not only lead to the future from the point I listened to it the very first time. Perhaps that’s the real meaning of Mirage.
2017 1 Sep.
Martina Weber | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 1 Comment
Martina Weber: Gerade ist dein vierter Roman mit dem Titel „Bevor die Welt unterging“ erschienen. In deinen bisherigen Romanen waren deine Hauptfiguren junge Frauen in ihren Dreißigern. Nun hast du einen Roman über das Erwachsenwerden in den 1980er Jahren geschrieben. Deine Protagonistin Judith wächst in einem behüteten Elternhaus in einer nicht genannten mitteldeutschen Kleinstadt auf. Die Mutter ist Hausfrau, der Vater ist Manager und arbeitet in der chemischen Industrie. Das Buch beginnt an Silvester 1979, Judith ist zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt, und es endet zehn Jahre später mit dem Fall der Mauer, dem Ende des Kalten Krieges. Was hat dich daran gereizt, dich mit den 80ern zu beschäftigen? Und warum gerade jetzt?
Kirstin Breitenfellner: Die Jugend, das Alter zwischen 15 und 25, ist die Zeit, in der man alles zum ersten Mal bewusst erlebt und die deswegen auch die prägendsten Erinnerungen hinterlässt. Die 1980er Jahre waren für mich allerdings ein, wie ich es auch im Roman nenne, „bleiernes Jahrzehnt“, das ich am liebsten vergessen hätte. Kalter Krieg, atomare Bedrohung, Waldsterben, Aids und schließlich der Reaktorunfall von Tschernobyl waren die dominierenden Themen. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte sagten Wissenschaftler und nicht Theologen den Weltuntergang voraus. Wenn ich heute apokalyptische Prognosen – Stichwort Klimawandel – höre, erinnert mich das an diese Zeit. Zugleich merke ich, dass ich sie emotional nicht mehr so stark an mich heranlasse wie damals. Denn die Welt ist nicht untergegangen. Auch, weil etwas gegen das Waldsterben etc. unternommen wurde. Ich kann mir aber vorstellen, dass diese Prognosen die heutige Jugend genauso ungeschützt treffen wie mich damals. Deswegen habe ich beim Schreiben nicht nur an meine eigene Generation gedacht, sondern auch an die jungen Menschen von heute. „Es kommt nicht immer alles so, wie man denkt“, lautete eine Arbeitshypothese beim Schreiben. „Aber das bedeutet nicht, dass man nichts tun muss“, die zweite.
Martina Weber: Deine Protagonistin Judith ist eine sehr reflektierte Person. Sie schreibt Tagebuch, sie beobachtet ihre Umgebung und ist darauf bedacht, sich fundierte Meinungen zu bilden und aufgrund dessen ihr Leben zu gestalten. Sie liest außerhalb der Schule Sachbücher, zum Beispiel über den Nationalsozialismus, sie liest die Schriften von Hoimar von Ditfurth, sie informiert sich über die Folgen eines Atomkrieges. Du zitierst zwei Zeilen aus dem Song „Forever young“ von Alphaville: „Are you gonna drop the bomb or not?“ Ein Satz in Großbuchstaben aus Judiths Tagebuch vom 1.9.1982 lautet: „Das ist es, was mich bedrückt: die Angst, ZU WENIG ZEIT ZU HABEN ZU LEBEN.“ Einige meiner Mitautoren hier auf dem Blog und meine einzige Mitautorin haben die 1970er Jahre als Jugendliche oder junge Erwachsene erlebt, sie schwärmen jetzt noch davon, dass es die beste Zeit ihres Lebens war. Die 1970er Jahre erweiterten, auch musikalisch, die Pforten der Wahrnehmung, plötzlich schien so vieles möglich zu sein, ein Freiheitsgefühl. Die 1980er waren dagegen für Jugendliche eine bedrückende Zeit.
Kirstin Breitenfellner: Bis zu den 1970er Jahren glaubten alle an den Fortschritt. Die Konservativen meinten damit das Wirtschaftswachstum, die Jugendlichen, die rebellierten, den gesellschaftlichen Fortschritt hin zu mehr Offenheit, Toleranz, Freiheit, dazu die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Sie waren von sich selbst überzeugt. Die jungen Erwachsenen der 1970er wurden unsere Lehrer. Sie kritisierten alles, waren aber selbst immun gegen Kritik. Das waren wir nicht mehr. Wir hatten Zweifel. Sie hatten ihren Spaß gehabt in der sexuellen Befreiung. Wir hatten Aids. In den 1980ern gab fand ein gesellschaftspolitischer „Backlash“ hin zu mehr Biederkeit statt. In meinem Jahrgang gab es an unserer Schule kaum mehr kritische Jugendliche, dafür umso mehr „Popper“, die auf Angepasstheit und Konsum setzten. Zum ersten Mal seit Kriegsende stagnierte das Wirtschaftswachstum. Und Jugendliche bekamen auf einmal zu hören, dass sie keine Zukunft auf dem Arbeitsmarkt hätten. „No Future“ wurde zum Slogan. Auch darin sehe ich eine Parallele zur heutigen Jugend.
In der Politik standen sich zwei Blöcke, West und Ost, unversöhnlich gegenüber und bedrohten sich mit dem atomaren „Overkill“. Dazu kam die angesagte ökologische Apokalypse. In Zeitungen wurde vorgerechnet, dass der Wald in weniger als fünf Jahren „tot“ sein würde – also, bevor das unser eigenes Leben angefangen haben würde. Deswegen die Angst, zu wenig Zeit zu haben zu leben. Und die Wut auf diejenigen, die das verbockt hatten: die Eltern, Lehrer, Politiker. Es war die Zeit der dunklen Gurus wie Hoimar von Ditfurth, mit dessen Schriften ich mich im Roman auseinandersetze, weil er nicht nur Angst und Schrecken verbreitete, sondern die Menschen auch wachrüttelte, jetzt etwas dagegen zu unternehmen. Der Treibhauseffekt, wie der Klimawandel genannt wurde, war damals schon ein Thema. Er ist heute aktueller denn je.
Trotzdem ist es uns damals auch gelungen, unsere Jugend zu genießen, mit Partys, Reisen, Liebesbeziehungen, harmlosem Unsinntreiben und Aufbegehren – zumindest zwischendurch …
Martina Weber: Auch wenn deine Hauptfigur Judith eine eigenständige Persönlichkeit ist, gibt es gewisse Parallelen zu deinem Leben, zum Beispiel was das Geburtsjahr und die Wohngegend angeht. Da hast du dich für die Recherchen sicherlich auch auf eine Zeitreise in deine eigene Jugend begeben… Welche Erfahrungen hast du beim Recherchieren und beim Schreiben des Buches gemacht? Was hat dich am meisten überrascht bei der Auseinandersetzung mit dieser Zeit?
Kirstin Breitenfellner: Das Setting, die Atmosphäre und das Erfahrungssubstrat des Romans sind tatsächlich autobiografisch, aber nicht seine Figuren und seine Handlung. Die Recherchen dafür waren für mich eine zweischneidige Erfahrung, zwischen Nostalgie und Entsetzen. Ich habe mir Filme der Zeit angeschaut, Musik gehört, Zeitungen gelesen, einen Artikel anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des Reaktorunfalls von Tschernobyl geschrieben. Und ich habe dafür sogar meine alten Tagebücher durchforstet. Das war schwer, weil man dem damaligen, verzweifelten Ich ja nicht helfen kann durch das heutige Wissen, die gewonnene Lebenserfahrung. Deswegen habe ich dem Roman ein Zitat von Charlie Chaplin vorangestellt: „Die Jugend wäre eine schönere Zeit, wenn sie erst später im Leben käme.“ Wenn man jung ist, will man mit dem Kopf durch die Wand. Alle Probleme auf einmal lösen, ohne Kompromisse. Aber man glaubt auch vieles, was einem erzählt wird. Ich jedenfalls habe alles geglaubt. Überrascht hat mich beim Wiedersehen der Filme und vor allem beim Wiederhören der Musik der Zeit, wie präsent diese Weltuntergangsangst in der Populärkultur war. Von Nenas „99 Luftballons“ bis zu „Forever young“ von Alphaville, wo es darum ging, dass man immer jung bleiben würde, weil man wegen der Atombombe früh sterben würde. Aber auch, wie schnell die Weltuntergangsverzweiflung wieder in einen ganz normalen jugendlichen Hedonismus kippen konnte. Man kann ja schnell vergessen und ist noch so leicht beeindruckbar und begeisterungsfähig in diesem Alter.
Martina Weber: Dein Roman hat vier Kapitel, eins aus dem Jahr 1980, es folgen Kapitel der Jahre 1982, 1984 und 1986. Es gibt ein Vorspiel (Silvester 1979) und einen längeren Epilog, das Jahr 1989. Obwohl Judith die Hauptfigur ist und es um ihre Perspektive geht, hast du dich für eine auktoriale Erzählstimme entschieden, also für eine allwissende Erzählerin. Deutlich wird dies zum Beispiel in Passagen wie dieser, aus dem Kapitel 1986, ich zitiere diese Passage ganz, weil sie mir sehr wichtig zu sein scheint, geradezu eine Schlüsselstelle des Romans: „Was Judith damals noch nicht ahnen konnte: dass die, die sich gegen die Gesellschaft zu wehren gewohnt waren, es verlernten, sich gegen sich selbst zu wehren. Dass das ihr größter Denkfehler war. Dass sie sich die Wahrheit über sich selbst nicht eingestanden und auch nicht die über den Menschen. Es gab sie nicht, die Guten, die von der bösen Gesellschaft verdorben wurden, denn sie alle waren die Gesellschaft.“ Warum hast du die auktoriale Erzählperspektive gewählt? Dazu gehört vermutlich auch, dass du im Nachspann skizzierst, was aus den im Roman erwähnten Figuren geworden ist, vor allem aus den Mitgliedern der Kleinstadtclique.
Kirstin Breitenfellner: Der Roman ist, wenn man so will, ein Prequel zu meinem ersten Roman, der wie so viele in der Schublade liegt, weil die Perspektive nicht gestimmt hat. Die Erzählstimme war nicht genügend von jener der immer noch jugendlichen Protagonistin zu unterscheiden. Die Jugend ist aber eine schreckliche Zeit, weil man so naiv ist und gleichzeitig so herrisch auftritt. (Die Helden von Dostojewskij, allesamt Terroristen in Gedanken oder Werken, sind alle 23, die heutigen Selbstmordattentäter mehrheitlich zwischen 18 und 23 Jahren alt.) Dieses Bewusstsein wollte ich den Lesern nicht ungefiltert zumuten.
Es ging mir um die Frage, warum man die Vergangenheit, in diesem Fall die 1980er Jahre, ganz anders versteht, wenn man weiß, wie sie „ausgegangen“ ist. Es hat mich gereizt, diese Diskrepanz, die auf jedes Leben zutrifft, das man nicht begreift, solange man mittendrin steckt, literarisch darzustellen.
In dem angesprochenen Zitat geht es um die Naivität, mit der wir „kritischen“ Jugendlichen glaubten, dass alles gut werden würde, wenn nur alle so wären wie wir. Dabei kamen schon zu den ersten Festen der Grünen die meisten mit dem Auto. Denn sie hatten ja jemanden, der schuld war, der böse war: die Gesellschaft, die Industrie, die Bosse … Der Denkfehler vieler eingefleischter Linker und auch der Päpste der Political Correctness von heute besteht darin, immer dem System die Schuld zu geben (dem Kapitalismus, heute in einer neoliberal genannten Erscheinungsform) und zu glauben oder zu suggerieren, dass, wenn man das nur System ändern könnte, alles gut werden würde.
Dem liegt die falsche Annahme zugrunde, dass der Mensch gut wäre, wenn er in einem anderen „System“ leben würde, wenn die, die ein besseres System verhinderten, nicht mehr da wären. Aber der Mensch ist nicht (nur) gut. Er kann mit seiner Gier und Neigung zu Rivalitäten jedes System korrumpieren, wie es zuletzt die Geschichte des real existierenden Kommunismus gezeigt hat. Wer sich weigert, diese Realität anzuerkennen, strebt nach einem Ideal, einer Utopie. Wenn diese nicht eintritt, sucht man nach Schuldigen, es wird Gewalt oder zumindest moralischer Druck ausgeübt, und sei es „nur“ in virtueller in Form von Shitstorms im Internet.
„Die Gesellschaft“ ist ein Abstraktum, sie zu beschuldigen tut niemandem weh, bringt aber auch nichts. Deswegen müssen dann immer irgendwann konkrete Sündenböcke her. Denn irgendjemand muss ja schuld sein – das System, die Konservativen, die Reichen. Nur nicht wir selbst.
Martina Weber: Angenommen, du könntest eine Zeitmaschine betreten und entscheiden, in welchem Jahr du geboren worden wärst oder geboren wirst. Würdest du lieber einer anderen Generation angehören, in einem anderen Jahr oder einem anderen Jahrzehnt oder womöglich in einem anderen Jahrhundert geboren worden sein?
Kirstin Breitenfellner: Eine interessante Frage, die ich mir beim Schreiben so nicht gestellt habe. Was die Zukunft bringen wird, weiß ich nicht. Deswegen kann ich mir kaum wünschen, darin zu leben. Als Frau kann man sich ja kaum wünschen, in früheren Jahrhunderten geboren worden zu sein. Ich war auch immer froh, nicht während des Nationalsozialismus gelebt zu haben. Als meine Protagonistin Judith mit ihrer Freundin Ella den Wissenschaftspublizisten Diethelm von Dillingen (alias Hoimar von Ditfiurth) bei einer Lesung trifft, wird ihr klar, dass es noch viel schwerere Zeiten gab, um jung zu sein.
Als Jugendliche hatte ich allerdings schon manchmal das Gefühl, ein bisschen zu spät gekommen zu sein, sagen wir ein, zwei Jahrzehnte. Die große Party der Befreiung war vorbei, und selbst die Natur, die zuerst bedroht war und nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl selbst zur Bedrohung wurde, bildete keinen Zufluchtsort mehr. Das Beste an den 1980ern waren ja ihr Ende, das bewiesen hat, dass es in der Weltgeschichte auch eine Zeitlang bergauf gehen kann … Und ich war damals nicht zu alt, um meine Jugend nachzuholen!
Website von Kirstin Breitenfellner:
2017 1 Sep.
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
Da NPR Neil Youngs „Hitchhiker“ streamt, den bald erscheinenden Solovortrag aus lang vergangenen Zeiten, nur Young und sein Gefährte David Briggs an den Reglern (in Europa hat wir 1976 einen legendären heissen Sommer!), war das natürlich die ideale Musik zum Duschen. Ich platzierte die wasserfesten Miniboxen neben den Duschköpfen, und folgte den selbstvergessenen Gesängen des gebürtigen Kanadiers, während ich abwechselnd warme und kalte Wasserstrahlen herabströmen liess. Manchmal dusche ich gerne eine Viertelstunde lang, und halte mich mit diesen Marginalien nur auf, um den seltsamsten Moment des Morgens etwas hinauszuzögern. Gestern hatten wir uns kurz begrüsst bei „Mother of India“ (gesehen hatten wir uns zuletzt vor einem Dutzend Jahren, und ich war mir nicht ganz sicher, ob er mich überhaupt erkannte), heute früh, sehr früh („the early bird syndrome“) begegnete ich Daniel Lanois zufällig wieder, am Eingang der Frühstückslounge, er winkte mich zur Seite. Er meinte, wir sollten nicht hier, aber in einigen Wochen, ein umfassendes Interview machen, „something comprehensive“, „über das Leben“, und er gab mir seine kanadische Telefonnummer. Er scheint wieder in die Heimat zurückgekehrt zu sein, ich erinnere mich an das erste lange Kapitel seiner Lebensgeschichte, in der keines der Häuser der Kindheit und Jugend seine Dämmerung verloren hatte.
2017 30 Aug.
Martina Weber | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Anton Corbijn, Brian Eno, Frank Hurley | 8 Comments
Ich möchte mit einem Experiment beginnen: Denken Sie an ein Kunstwerk – an ein Stück Literatur oder Musik zum Beispiel -, das historisch betrachtet möglichst alt ist, von dessen Urheber Sie jedoch eine bildliche Vorstellung haben, vielleicht eine Büste von Plato oder ein Gemälde, das Mozart zeigt. Beeinflusst das Bild des Künstlers Ihre Rezeption des Kunstwerks? In seinem Essay „Edges and Center“ aus dem Jahr 1996 hat Brian Eno das Diagramm einer Pop-Platte mit den Schichten einer Zwiebel verglichen: Nur aus Bequemlichkeit, schreibt er, deponiert er im Zentrum die Musik selbst, dann kommen die Texte, dann der Look der Band, die Modelandschaft, der Lifestyle und die Geschichten. Wo liegen die Grenzen des Kunstwerks? Die Hochkultur beansprucht, reiner Inhalt zu sein. Das zentrale Spiel der Popkultur dreht sich hingegen um die Frage: „Wer könnte ich sonst noch sein?“ Der schöpferische Akt der Fotografie ist die Entscheidung, welche Art von Lüge man zeigen will, in den Nuancen von Licht. Brian Eno hat seinen Essay in mehreren Büchern mit Künstlerportraits von Anton Corbijn publiziert, zum Beispiel in dem faszinierenden Band „Anton Corbijn: everybody hurts“. Hier finden sich Portraits, meist von Musikern, aus einer Zeitspanne, die Mitte der 70er Jahre beginnt und bis über die Jahrtausendwende reicht. David Bowie, Joe Cocker, Ian McCullough, Iggy Pop, Jon Bon Jove, Keith Richards (mit Shelfie! Wenn Sie den Begriff nicht kennen, geben Sie ihn bei der Manafonistas-Suchfunktion ein.) Eno erzählt auch von Corbijns Tricks. Wie der Fotograf es schafft, dass jemand bereit ist, sich versuchsweise zum Volltrottel zu machen. Die Portraits wirken nicht nur auf das Publikum, sondern auch auf die Portraitierten zurück. Alan Bangs schrieb in einem Essay „Splendid Isolation“, der sich ebenfalls in dem genannten Buch findet, Corbijn sei davon überzeugt, seine Aufnahmen von Depeche Mode hätten der Musik eine neue Richtung und ihr mehr Tiefe gegeben.
Der Anspruch, mit der Fotografie die Wirklichkeit abzubilden, wurde bereits während des Ersten Weltkriegs aufgegeben. Im Jahr 1917 reiste der Kriegsfotograf Frank Hurley an die Westfront, um das Geschehen dokumentarisch und möglichst unvoreingenommen festzuhalten. Der Erste Weltkrieg war jedoch der erste technisierte Krieg und das Schlachtfeld sah anders aus als in den Kriegen zuvor. „Ich habe immer wieder versucht, Ereignisse auf ein einziges Negativ zu bringen“, schreibt Hurley in sein Tagebuch, „aber die Ergebnisse waren hoffnungslos. (…) Die Personen zerstreut, die Atmosphäre mit Rauch dicht erfüllt – Granaten, die einfach nicht explodieren, wenn man sie braucht. (…) Die Schlacht ist in vollem Gang, aber wenn ich meine Platten entwickle (…) Ich finde nichts als die Aufnahmen von ein paar aus den Gräben stürmenden Gestalten und einen Hintergrund aus Dunst. Nichts könnte einer Schlacht unähnlicher sein.“ Hurley fertigte die ersten Montagen in der Geschichte der Fotografie an, indem er in der Dunkelkammer mehrere Negative zu einem Abzug kombinierte. Diese Methode nannte er „composite printing“. Hurleys bekanntestes Bild setzt sich aus zwölf Negativen zusammen, die er im Oktober 1917 bei Zonnebeke aufgenommen hat. Es ist, wie die Fotografien Anton Corbijns, Teil des kollektiven Gedächtnisses.
2017 29 Aug.
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Björn Meyer, C.J. Box, Heartbreak Hotel, John Lennon, Lucinda Williams, Neil Young, Sgt. Pepper, Zeeland | Comments off
It’s a beautiful day. I have all the words piled up, stuffed, caused to collapse reflecting those Lucinda Williams vibes still running through my veins. But not now. In the very early morning I saw a ship appearing out of a milky horizon. My borrowed blue metallic caravan did a risky thing tonight, wild camping in the Netherlands. Before sleep, a cold swim, and Björn Meyer’s forthcoming „Provenance“ from discreet loudspeakers. Where-am-I-drifting-music. I can’t get enough from small waves‘ tender touch. There’s an anti-nostalgic side in everything. That’s the way the mind works suddenly turning a different page. Remember Sgt. Pepper, remember „A Day in the Life“. The song is overpoweringly heartsick, John sings in his most spectral voice, treated with what he calls his „Elvis echo“, a la „Heartbreak Hotel“. As the hours go slowly by, and in the company of appel pannenkoek and Bessen Genever, one of the darkest albums of the ’70s springs to mind, Neil Young’s „On The Beach“. Beauty hurts, and darkness works as medicine. I blame it on C.J. Box’s „Paradise Valley“ that a serial killer visited me tonight. Learned my lesson, do love all these empty pages of a fucking beautiful day, all these empty pages …