Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

You are currently browsing the blog archives for the month Oktober 2019.

Archives: Oktober 2019

2019 12 Okt.

Jazz? und der atmende Blutmond

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  | 2 Comments

Keine Einträge gefunden. Ein leeres Blatt hier auf diesem Blog? Ich mag es kaum glauben, dass scheinbar über all die Jahre sich noch keiner dem französischen Trompeter Erik Truffaz gewidmet hat. Seit Bending the Corners Ende des letzten Jahrtausends erschien und eine ganz eigene Welt erschuf in der sich Wah-wah-E-Pianos, französische Rapper und neue Strukturen, getragen von einem Trompetensound, der mal schwebte und sich mal durch vertrackte Rhythmen mäanderte, hat Truffaz etliche, teilweise auch weit genreübergreifende Alben vorgelegt. Dabei die musikalisch sehr spannenden kulturübergreifenden Experimente von Rendez-Vouz, u.a. Mit Sly Johnson, Murcof und indischen Musikern oder das fast ambienthafte Being Human Being mit Enki Bilal (dessen Comics und Filme einen doppelbödigen, morbiden Charme und eine ganz eigene Bildersprache haben). Dazwischen gab es aber immer wieder Alben mit seiner Band, in der ihn der Keyboarder Benoît Corboz und der Bassist Marcello Giuliani schon sehr lange begleiten. Auch war er neben Nils Petter Molvaer einer der ersten Jazzmusiker, die vor fast 20 Jahren ein ganzes Album als höchst hörenswerten Remix bearbeiten ließ: Erik Truffaz Revisité. Eine Empfehlung!

Ein leeres Blatt liegt auch bei Beginn der Aufnahmen zu seinem aktuellen Album Lune Rouge auf dem Tisch. Nur die Idee die bisherige Klangsprache weiterzuentwickeln, wozu der zuletzt hinzugestoßene Drummer Arthur Hnatzek gebeten wurde die perkussiven Grundstrukturen für die gemeinsamen Sessions vorzubereiten. Dies hat er sehr minimalistisch und treibend getan, was selbst bei dem stets für Neues offenen Erik Truffaz angesichts des konsequenten Reduktionismus anfangs etwas irritiert haben muss. So begannen die Sessions der miteinander inzwischen sehr vertrauten Musiker und danach wurde geschnipselt und geschnitten. Teo Macero lässt grüßen. So gehen Sessionelemente und Komponiertes oft nahtlos ineinander über. Das Album beginnt mit Tanit, einer kurzen rhythmischen Überraschung, treibt weiter durch Cycle By Cycle. Jedes Stück mit sehr eigener, fast tranceartiger Atmosphäre und auch in sich sehr abwechslungsreich. Five to the Floor stellt das elegante Jazzpendant zum technotragischen, unendlich ausgelutschten Four-to-the-Floor dar, ET Two eine sehr gelungene Improvisation und Tiger in the Train ein massiv treibendes Stück, wo die Vitalität des Tigers im Rhythmus des Eisenbahnschienenholperns direkt unter die Haut geht. Danach folgt das Titelstück, das auch zugleich das längste des Albums ist, ein echter Höhepunkt in seiner sensiblen Differenziertheit, Vertracktheit und innovativen Schönheit. Mit Algol und Alhena folgen zwei perkussive Skizzen, die die arabischen Namen zweier Sterne tragen und durch teils gepresste, teils schwerelose Passagen der Trompete getragen werden. Nostalghia reizt dann die etwas gefälligere Seite aus, ohne sich dabei zu arg in Klischees zu verlieren, was aber leider zwei weitere Stücke mit Gesang etwas zu zwanglos tun und so auf dem sonst beeindruckend frischen Album wie sentimentale Fremdkörper wirken. Gerne mischt Truffaz mal zwei Gesangsstücke auf seinen Alben unter den Rest, was aber vor etwa 10 Jahren mit der großartigen Sophie Hunger zum letzten mal wirklich gut gegangen ist. Zum Ausklang gibt es das schwerelos impressionistische und zeitlose Houlgate, das in einer sanftestmöglichen Landung endet. Ich sitze auf meiner Urlaubsterrasse und schaue auf das Meer, in dem der fast volle Mond sich spiegelt und imaginiere den für den Blutmond erforderlichen Erdhalbschatten hinzu. Der Atem der sehr alten Trompete Truffaz‘ schwingt weiter und mischt sich mit dem Pfeifen des Abendwindes und dem Zirpen der Grillen. Noch mal von vorne …

 
 

 

2019 12 Okt.

Max Ernst und die Beatles

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 4 Comments

Ein Neurowissenschaftler sagte mal, kurz nach der Pubertät sei der Mensch im Wesentlichen festgelegt. Dieses vor Jahren wahrgenommene Statement kam vor ein paar Tagen in Erinnerung, zum einen aufgrund der Neuausgabe des legendären Albums Abbey Road, zum anderen weil mich die Betrachtung von gemachten Fotos an einen Künstler erinnerten, der mich in jungen Jahren auf geradezu ekstatische Weise beeindruckte und beeinflusste. Könnte man Ekstase und Verzauberung messen, das „Twin Peaks Level“ wäre wohl noch um einige Dezibel überschritten gewesen. Es war genau in jener Umbruchzeit, der Stimmbruch schon vollzogen, als Jemand nassforsch-fordernd fragte, was denn meine Vorbilder seien. Ohne zu zögern schoss es heraus: „Max Ernst und die Beatles!“ Jahre später nochmals diesselbe Frage, diesmal war die Antwort, ebenso spontan wie selbstgewiss: „Die Sonne!“ Rückblickend kann ich heute sagen: alle drei prägenden Instanzen hatten mein Leben lang Bestand. Was auch immer gewisse Glaubensbrüder und -schwestern unter „Gott“ verstehen (ein für unsereins relativ unklarer Begriff): die Sonne stand zu allen Zeiten höher. Aufgrund eines Verkehrsunfalls lag ich zwei Monate im Krankenhaus, elfjährig und schwer verliebt in eine Krankenschwester. Ein Event tröstete mich am Tag der Entlassung über den Abschied hinweg: Abbey Road erschien. Noch schnell am Plattenladen vorbei, bislang besaß ich ja nur Singles („Crimson and Clover“, „Hey Jude“, The Troggs, The Rattles). Zuhause gleich aufgelegt (der Dual Plattenspieler wurde über Diodenstecker an das Telefunken Bajazzo Transistorradio angeschlossen). Ein neues Ich begann, tiefgreifende Identifikation: man hörte das Album nicht, man war es selbst. Ähnlich ging es mit Max Ernst, dessen Einfluss sogar die Aufnahme in die Kunsthochschule zu verdanken war. Bei ihm kamen verschiedene Momente ins Spiel: das poetische Moment, in altmeisterlicher Technik vorgetragen; die Schockeffekte von Dada und Surrealismus; und die Hinwendung zu Traumwelt und Psychoanalyse (hier besonders die Collagen). „Ein Zauberer der kaum spürbaren Verrückungen“, so wurde er genannt, der gleichzeitig urdeutsch und völlig undeutsch war. Wie gesagt, als ich im Sommer diese Fotos machte, dachte ich, der Ernst steckt irgendwie noch drin, mit all seiner Heiterkeit.

 
 


 
 

 

In meinem Reisetagebuch findet sich der Eintrag vom 8.9.1970: wir reisen nach Jugoslawien ein. Wir nehmen den Bus von Triest nach Kozina, weiter nach Rijeka, mit einem anderen Bus bis Kraljevica. Wir schlafen in einer Pension „Frano“ am Strand.

Die Schönheit von Jugoslawien ist in dem Buch „Brücke über die Drina“ beschrieben. Ivo Andriç (1892-1975) hat dafür den Literaturnobelpreis bekommen. Lange vor Peter Handke. Die Brücke ist die beste Metapher für ein Land, das einmal als Vermittler in der Weltpolitik eine unvergleichlich wichtige Rolle spielte, als es ihm der Größe nach gebührte. Für uns war Jugoslawien ein fremdes Übergangsland zwischen zwei Welten, Ost und West, Christ und Moslem. Wir waren über die Sprachenvielfalt überrascht und fasziniert von der spektakulären Naturlandschaft.

 
 


 
 

Es war Ivo Andrić’s Verdienst, Serben, Kroaten und Slowenen zumindest sprachlich unter einen Verbund zu bringen. Wir Leser erfuhren aus seinen Büchern die ersten Details noch vor dem Balkankrieg. Peter Handke bangte zurecht um den Fortgang der Geschichte von Europa. „Indem man Jugoslawien zerstört  hat, hat man das wirkliche Europa zerstört.“ Peter Handke wollte Vorort sein, er wollte dabei sein, schauen, empfinden und fragen. Und vor allem begreifen. Und dann in Sprache umsetzen.“Nichts näher dem Göttlichen als die Sprache – die Möglichkeiten der Sprache.“

 

„Und Don Juan war schon immer auf der Suche nach einem Zuhörer gewesen.“

(Peter Handke: Don Juan – erzählt von ihm selbst)

 

 
 

In dem wunderbaren Buch erzählt er von 7 Begegnungen mit Frauen, die verlassen werden und zwar auf so meisterliche, sanfte Art und Weise, wie das Leonhard Cohen tat. Handke lässt die Frauen in geografische Räume treten und hält sie dort in der Zeit fest – ganz der Nietzsche-Kenner – er bittet sie, den erfüllten Augenblick festzuhalten. Vermögen die Liebenden, die Liebedienerinnen ihren Don Juan zu erkennen? Seine Verführung? Was sind das für Frauen? Verführen nicht eher sie? Handke beschreibt die erste Frau unglaublich sinnlich. Es ist eine Rockerbraut in Lederklamotten mit nichts „drunter“. Auf dem Rücksitz einer schweren Maschine. So oder so, das kann Handke also auch. Ein weiterer Versuch. Die Versuche sind symptomatisch für sein Oevre. Er schaut, er empfindet, er fragt, er begreift … Auf einer Hochzeit im Kaukasus erzählt er, wie die Braut mit ihm flirtet.“ Jetzt gab es nichts mehr als die fremde Frau … Da saß keine Braut mehr, sondern nur noch die Frau … unbeschreiblich schön … Er erzählte weiter, dass er, in der Tür stehen geblieben,  sie so nah und so gross sah wie durch ein Telescop insbesondere so ausschließlich. Don Juan war kein Verführer. Er hatte noch nie eine Frau verführt. Zwar waren ihm welche begegnet, die ihm das nachgesagt hatten. Aber diese Frauen hatten entweder gelogen, oder sie wussten nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand, und hatten eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen.  Und umgekehrt war Don Juan auch noch kein mal von einer Frau verführt worden. Es war vielleicht vor gekommen, dass er solch einer Möchtegern-Verführerin ihren Willen, oder was es eben war, liess, doch im Handumdrehen wurde ihr dann klargemacht, dass es jetzt um keine Verführung mehr ging und dass er, der Mann, weder den Verführer verkörperte noch auch das Gegenteil. Er hatte eine Macht …“ (DON JUAN S.73) Eine geniale Vorlage für Pavarotti und die me too ladies …

Ich gratuliere Peter Handke zum Literaturnobelpreis, er hat ihn verdient. Ich wünsche ihm noch viele Leser. Und für seine genauen Skizzen noch viele kontemplative Betrachter.

2019 11 Okt.

… und 2019

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  | 4 Comments

In einem meiner ersten Kommentare hier auf dem Blog (ich war noch kein „offizieller“ Manafonista) ging es auch um Herbert Vesely‘s Film „Der kurze Brief zum langen Abschied“ nach dem gleichnamigen Text und Drehbuch von Peter Handke. Damals deshalb, weil in diesem durchaus typisch deutschen Roadmovie die Musik Brian Enos zu der wunderbar surrealen Atmosphäre wesentlich beitrug und die Unbestimmtheit vieler Szenen auf ein neues Niveau hob. Leider ist dieser Film aus dem öffentlichen Repertoire völlig verschwunden.

Vor etwas über 40 Jahren wurden die Texte Peter Handkes durch den großen Bruder einer Grundschulklassenkameradin in unsere Familie gebracht. Genauer besuchte er öfters meine Mutter und führte lange Gespräche mit ihr, was insofern ungewöhnlich war, dass sie sonst eine eher zurückhaltende und kontaktvermeidende Person war. Eines Tages brachte er, der übriges heute eine exzellente Bassgitarrenmanufaktur führt, „Die Innenwelt der Aussenwelt der Innenwelt“ zu uns mit. Ein Büchlein mit Texten, die ich als damals Spätpubertierender verschlang und nach mehr verlangte.

So saß ich etwa ein Jahr später in der Oberstufe im Unterricht und las von den ewigen Redundanzen gelangweilt, Handke‘s „Kaspar“. Stille und unauffällig. Was meine Lehrerin nicht davon abhielt mich zur Ordnung zu rufen und mich scharf fragte, was ich denn da unter dem Tisch täte. „Lesen“ antwortete ich lakonisch und verkniff mir den Kommentar zum Stimulationsniveau ihres Unterrichts. „So, was denn? Dann lesen sie doch mal vor!“ legte sie nach. Doch der Moment ihrer vermeintlichen Überlegenheit weilte nur kurz, als ich ruhig begann einfach genau die Textstelle, an der ich mich gerade befand, vorzulesen. Wer mit dem Text vertraut ist, weiß, dass es sich fast nur um Ausführungen zum pädagogischen Frontalversagen handelt, klar im Inhalt und klar in den theaterreifen Aussagen. Desto weiter ich las, desto amüsierte zeigte sich der Kurs und desto stiller und verlegener wurde meine Lehrerin. Es war genau das letzte mal, dass ich beim Lesen in ihrem Unterricht gestört wurde.

Später trug ich lange Zeit meist eines seiner Journale, beginnend mit dem „Gewicht der Welt“ mit mir herum, weil sich diese kurzen, oft sehr präzisen Beobachtungen, die gerade die kleinen, leicht zu übersehenden Dinge fokussierten, hervorragend eigneten in den kleinen Momenten zwischendurch gelesen zu werden. Manchmal weckten sie mich auch einfach auf und zogen mich in eine Beobachterposition hinein, in der ich zum stillen Betrachter der Dinge werden konnte, die sonst nur zu schnell übersehen werden. Und genau diese feine Spur ist es, die ich an Peter Handke‘s Texten mag, so strittig sie vielleicht in anderer Hinsicht auch sein mögen und die nicht zuletzt auch zu etwas Doppelbödigem, wie dem „Versuch über den stillen Ort“ geführt haben.

 
 

 

Summer in the City, Frankfurt. Mal wieder in der schönsten Konzertlokalität der Stadt im Pavillion im Palmengarten. Mitten im Grünen an einem herrlichen, warmen Sommerabend schließt die Konzertreihe, die über den Sommer verteilt für fast jeden Geschmack etwas zu bieten hatte, Ende August mit den Grandbrothers aus Düsseldorf. Ein Konzertflügel mit allerlei Aufbauten und Kabeln und ein Tisch daneben. Sieht nicht aus wie der Aufbau für eine Band. Ist es aber, denn was Erol Sarp (r) und Lukas Vogel (l) aus dieser Konstruktion herausholen werden, ist weit mehr als der Sound einer Band.

 
 

 
 

Kennengelernt habe die beiden sich bei der Aufnahmeprüfung zum Musikstudium und nachdem sie diese Hürde bewältigt hatten kamen sie bald auf die Idee ihre gemeinsamen Vorstellungen musikalisch umzusetzen. Aber zwischen der Geburt der Idee und einer gelingenden Umsetzung verstrich noch etwas Zeit, denn der Plan war, ein Klavier auf besondere Weise zu präparieren. So dass man einerseits weiter darauf normal spielen konnte und dann aber auch so, dass unzählige kleine elektrisch angesteuerte Hämmerchen den perkussiven Raum eines Flügels neu erschlossen. Dann werden die Sounds mit vielen Mikrofonen aufgenommen und im Computer weiterverarbeitet, teils als Live-Sampling, teils nur Klangausschnitte, Hallfahnen oder Klicks.

„Unser Konzept ist, dass alle Klänge des Konzerts nur aus dem Flügel kommen“ erläutert Lukas zwischen den ersten Stücken einer steigenden Verwunderung des Publikums vorbeugend. Es klickt und klackt im Flügelinnenraum: auf die Schrauben, an die Holzteile, auf die Saiten und was da noch angesteuert werden kann. Daraus entsteht schnell ein Groove, der mächtig vorantreibt. Erol sitzt auf der Tastenseite und spielt gegen seine eigenen Klangfiguren an und auf der anderen Seite am Tisch steuert Lukas die Steuereinheit Für die vielen Hämmerchen, Mikrophone und die Computer. Präparierte Klaviere faszinieren mich, wie ja schon öfters angedeutet, schon seit Jahren, aber das hier hat eine andere Dimension. Das ergibt eine völlig neue Art aktiv im Innenraum des Konzertflügels zu improvisieren und auch das Resultat ist entschieden näher an aktuellen Hörgewohnheiten dran.

Noch sitzen die Zuhörer im Halbrund um den Pavillion, verwundert, fasziniert, abwartend und neugierig. Aber bereits nach wenigen Stücken beginnt bei Arctica – wie im echten Leben – das Eis zu schmelzen und die ersten wagen es, sich dem Rhythmus anzuvertrauen. Schnell ist der Raum vor der Bühne gefüllt und es wird getanzt, was hervorragend zu dieser kreativen Melange zwischen klassischen Reminiszenzen und trancigen Grooves geht. Und das geht lange. Neben den alten, bereits veröffentlichten Stücken spielen Erol und Lukas auch immer wieder Neue, die neben der perkussiven Auslotung des Flügels nun auch eine selbstentwickelte Technik zur Schwingungsinduktion der Saiten (ähnlich einem E-Bow bei der Gitarre) nutzende Stücke, die dadurch tragender, reicher Und experimenteller werden. Als Zugabe gibt es Bloodflow (hier der Link zu dem Video dazu) und noch ein neues Stück. Eine fantastische Klangerfahrung, die an Ideenreichtum und Orginalität die Grenzen des klaviermöglichen ordentlich erweitert haben. Von den grandiosen Grandbrothers werden wir hoffentlich bald noch viel mehr hören können …

 
 

 

2019 9 Okt.

Giya Kancheli starb 84-jährig in Tiflis

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off

Vor einer Woche, am letzten Mittwoch, verstarb Giya Kancheli 84-jährig in Tiflis, seiner georgischen Heimatstadt. The Guardian schrieb: „Leading Georgian composer whose music combined stillness and beauty with expressive outbursts.“ Treffender kann man seine Musik kaum beschreiben. Mir sind nur seine zwölf bei ECM New Series erschienenen Platten bekannt, sie nehmen einen besonderen Platz in meinem Plattenschrank ein. Giya Kancheli veröffentlichte aber auch auf anderen Plattenlabel von 1965 an seine Musik. Demnächst möchte ich ausführlicher auf das faszinierende Werk dieses Komponisten eingehen. ECM veröffentlichte gerade einen interessanten Rückblick auf sein Werk (www.ecmrecords.com/news)

 

 

 

 

Heute höre ich von Giya Kancheli „Silent Prayer for violin, violoncello, string orchestra and tape“ (2007) aus der CD: Kremer, Gidon & Kremerata Baltica – Hymns and Prayers.

2019 9 Okt.

Schöner sterben mit Laurie

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  | 1 Comment

Vor einiger Zeit hatte ich hier in einem Kommentar nebenbei die Frage aufgeworfen, ob Laurie Anderson schon immer Buddhistin war oder erst seit neuerer Zeit. Sie hat, wie ich inzwischen weiß, erste Fühlung bereits in den Siebzigern in den Künstlerkreisen von SoHo aufgenommen, sich dann aber nicht weiter darum gekümmert. Erst in den Neunzigern scheint sie dann ernsthaft in den tibetischen Buddhismus eingestiegen zu sein; offenkundig unter dem Eindruck Lou Reeds, John Cages und Philip Glass‘ (letzterer ist u.a. Mitgründer des buddhistischen Tricycle-Magazins). Ebenfalls in den Neunzigern sprach sie Texte des Dalai Lama für ein Hörbuch.

Und nachdem schon Lauries zurückliegende Alben Heart of a Dog und Landfall recht jenseitig orientiert waren, geht es nun um buchstäblich die letzten Dinge — beziehungsweise die Dinge zwischen Ende und Neuanfang.
 
 

 
 
Das Projekt Songs from the Bardo ist 2014 live aufgeführt worden und liegt nun als Studioeinspielung vor. Über einen durchgehenden, sich laufend verändernden Klangteppich spricht Laurie Anderson die Unterweisungen des „Bardo Thodol„, auch bekannt als das „Tibetische Totenbuch“. Sie selbst spielt Violine, begleitet wird sie von Tenzin Choegyal (Gesang, Gongs, Lingbu, tibetische Bambusflöte, Dranyen, Klangschalen), Jesse Paris Smith (Klavier, Gongs und Klangschalen), Rubin Kodheli (Cello) und Shahzad Ismaily (Perkussion).

Der Begriff „Bardo“ steht für „Zwischenzustand“ oder „Übergang“. Beschrieben werden im Totenbuch (sehr vereinfacht gesagt) in drei Stadien die physischen und psychischen Ereignisse im Sterbeprozess, im Moment des Todes und des Danach. Eine Reihe von Unterweisungen sollen dem Sterbenden vorgelesen werden, um ihn durch die Tage nach dem Tod zu führen und ihm den Weg durch die Erscheinungen zu weisen, mit denen er zu rechnen und auf die er gegebenenfalls zu reagieren hat: die Wahrnehmung des Klaren Lichts, die karmischen Illusionen, die sich als friedvolle und zornige Gottheiten und als sich aufbauendes Mandala zeigen, und die Ereignisse beim Eintritt ins Nirvana oder eine Wiedergeburt — immer begleitet von dem Hinweis, dass es sich bei allem, was zu sehen oder zu hören ist, um Projektionen des eigenen Geistes handelt. (Es verwundert nicht, dass Timothy Leary diese Teile des Tibetischen Totenbuches vor vielen Jahren einmal in eine Art Reiseführer umgearbeitet hat, der lange Zeit als Raubdruck kursierte.)

Man kann die Songs from the Bardo unmöglich im Hintergrund laufen lassen. Die Platte zieht den Hörer in ihren Bann. Lauries (inzwischen deutlich gealterte) Stimme und ihre hochkonzentrierte Sprechweise zwingen zum Zuhören — auch dann, wenn man vielleicht mit der Thematik des Albums wenig anfangen kann. In letzterem Fall sind die 14 Tracks zumindest eine Reise in eine faszinierende Gedankenwelt. Es ist auch sicher kein Zufall, dass die Platte nicht bei Lauries Hauslabel Nonesuch erschienen ist, sondern bei Smithsonian/Folkways. Das Booklet enthält umfangreiche Texte über das Projekt und die Ausführenden, leider allerdings nicht den von Laurie gesprochenen Text, den man eigentlich gerne mitlesen würde. Man findet den Wortlaut des Totenbuches aber in verschiedenen Übersetzungen im Web.

Alsdann: Awakened One, listen without Distraction.

Hartes Brot, aber es lohnt sich.

 

Mitte der 70er Jahre funktionierte das: Einfach das Passfoto mit einer Rasierklinge entfernen und ein anderes einzukleben. Zwei Passfotos, zwei Pässe, schon sind zwei Identitäten vertauscht. In einem kleinen Hotel in der zentralafrikanischen Wüste, wo gerade nur zwei Gäste sind, die einander ähnlich sehen und die das Personal sowieso nur flüchtig wahrgenommen hat, fällt das nicht auf. So wird der britische Kriegsjournalist David Locke in Michelangelo Antonionis The Reporter (Beruf: Reporter) zu David Robertson. Doch was macht seine neue Identität aus? Große Lücke jetzt, erwähnen möchte ich nur die junge Architekturstudentin, gespielt von Maria Schneider. Und, what a serendipity, ein pinkfarbenes Flugzeug am Münchner Flughafen, das einmal kurz im Hintergrund zu sehen ist. Um dem Vorwurf zu entgehen, er selbst hätte es bemalen lassen, hatte Antonioni einige Tage abgewartet. Schließlich, das kleine, weiß getünchte Hotel de la Gloria im südlichen Spanien. Zwischenstation auf dem Weg nach Tanger. Flucht in eine andere Lebensform. Robertson erzählt der Frau von einem blinden Mann, der, als er schließlich doch sehen konnte, die Welt nicht ertrug. Robertson ist müde geworden, er legt sich rücklings aufs Bett. Das Fenster, das hier zu sehen ist, entspricht im Bild oben dem Fenster ganz rechts.

 

 

„What can you see?“ fragt er die Frau. Da ist eine freie, unasphaltierte Fläche. Ein Junge wirft einen Ball. Ein alter Mann lehnt sich an die Mauer. Und Staub, viel Staub. Die Frau nimmt ihre Jacke vom Garderobenhaken, steckt sie in ihre Reisetasche und geht. Robertson steckt sich eine Zigarette an und schaut selbst aus dem vergitterten Fenster. Jetzt beginnt die siebenminütige, irreale Kamerafahrt. Sehr langsam focussiert sich der Blick, immer näher ans Gitter und – wie das?, es gab keinen Schnitt! – durch zwei Gitterstäbe hindurch, hinaus auf den Platz, den Blick nach links, ankommende, wegfahrende Autos, den Blick nach rechts, Menschen steigen aus einem Wagen, sie betreten das Hotel durch den Haupteingang, die Kamera (alles ein Shot) hat einen 180 Grad Winkel aus einem vergitterten Fenster heraus gemacht und schließlich schauen wir mit der Kamera durch das Fenster, von dem die Kamerafahrt ihren Ausgangspunkt nahm. Schnitt, Abenddämmerung in Andalusien. Die Wolkendecke eine grau marmorierte Wand. Ein pinkfarbener Horizont leuchtet. Der alte Mann, der vorher an der Mauer lehnte, geht die Straße entlang, ins Licht. In der Eingangshalle des Hotels wird die Lampe eingeschaltet. Ein Mann tritt aus dem Hotel, er zündet sich eine Zigarette an. Eine Frau kommt dazu, sie reden laut, der Mann geht Richtung Dämmerung. Die Frau schaut ihm kurz nach und setzt sich auf die Treppe vor dem Eingang des Hotels. Der Zauber der Schönheit, die Unbarmherzigkeit der Natur und der Menschen, und eine kleine Bemerkung, die eine Verbindung verrät, ganz nebenbei.

Die Beiträge zu dem fünfzigsten, hundertsten und dem einhundertfünfzigsten Plattenschrank waren für mich stets Anlass, über eine ganz besondere Musik oder ein außergewöhnliches Buch zu schreiben. Im fünfzigsten Plattenschrank war das Buch Abendland von Michael Köhlmeier  und die liebevoll gestalteten 10CD-Box Lady Day: The Complete Billy Holiday on Columbia 1933-1944 das Thema; der hundertste Plattenschrank beschäftigte sich mit der Orgelmusik von Olivier Messiaen und am Rande auch mit dem Orchesterwerk Quatuor pour la Fin du Temps. Diese Komposition stand dann im Mittelpunkt der einhundertfünfzigsten Ausgabe des Plattenschrankes.

Olivier Messiaen ist nun auch das Thema, wenn zum zweihundertsten Mal der Plattenschrank geöffnet wird. Und es geht um Vögel. Messiaen zeichnete auf seinen Weltreisen Vogelgesänge auf, ungefähr 700 Vogelrufe konnte er unterscheiden. Sein Zyklus Catalogue d’Oiseaux, 13 Stücke für Klavier, soll heute der Plattensammlung entnommen werden. Dieser Zyklus ist häufig aufgenommen worden: Pianistin Yvonne Loriod, die Messiaen am 1. Juli 1961 geheiratet hat, spielte ihn am 15. April 1954 in der Pariser Salle Gaveau zum ersten Mal (auf Schallplatte 1959 erschienen), sie ist auch Widmungsträgerin dieser Werke . In den vergangenen Jahren erschienen Einspielungen von Pierre-Laurent Aimard, Anato Ugorski, Martin Zehn und anderen. In diesem Jahr nun (15.3.2019) veröffentlichte der italienische Pianist Ciro Longobardi seine Einspielung des Catalogue d’Oiseaux. Großartig!

 
 


 
 
 
Anlässlich der Uraufführung des Stückes führte Messiaen ausführlich in sein Werk ein:
 
 
„Vor inzwischen rund 30 Jahren begann ich damit, Vogelgesang zu notieren. Meine ersten Trans-kriptionen finden sich verstreut in meinen frühesten Werken. Leider hatte ich damals keine Erfahrung und wusste nicht immer, welchem Vogel ich dies oder jenes Lied zuordnen sollte. Später holte ich mir Rat bei Spezialisten auf diesem Gebiet und lerne sehr viel auf geführten Wanderungen … Nachdem ich das getan hatte, war ich in der Lage, mit meinen eigenen Flügeln zu fliegen (nicht in übertragener Bedeutung oder als Wortspiel gemeint). Und so ziehe ich jedes Jahr im Frühling mit Bleistiften, Radiergummis, Notenpapier, Zeichenblock und einem riesigen Feldstecher bewaffnet los und reise in verschiedene Regionen Frankreichs auf der Suche nach meinen Lehrern. So entstand mein Catalogue d’oiseaux für Soloklavier … Alles stimmt genau: Die Melodien und Rhythmen des Solisten und die seiner Nachbarn, der Kontrapunkt zwischen den beiden, die Antworten, Ensembles und Augenblicke der Stille sowie die Übereinstimmung des Lieds mit der jeweiligen Tageszeit.

Besonders schwierig war es, die Klangfarben zu übertragen, vor allem auf dem Klavier: Wir alle wissen, dass die Klangfarbe sich aus der größeren oder geringeren Anzahl an Obertönen ergibt. Deshalb musste ich ungewöhnliche Tonverbindungen ausprobieren. Andererseits war das Klavier aufgrund seines Tonumfangs und der Unmittelbarkeit der Ansprache das einzige Instrument, das mit so großer Geschwindigkeit und in diesen sehr hohen Lagen sprechen kann, die für einige der virtuoseren Vögel erforderlich sind – wie zum Beispiel die Nachtigall, die Singdrossel, den Schilfrohrsänger und den Teichrohrsänger. Das Klavier ist auch das einzige Instrument, das die rauen, krächzenden und durchdringenden Rufe des Raben und des Drosselrohrsängers imitieren kann, das Scheppern des Wachtelkönigs, das Kreischen des Wasserralle, das Bellen der Silbermöwe, den trockenen und gebieterischen Klang – wie Klopfen auf Stein – des Mittelmeerschmätzers und den sonnigen Liebreiz der Blaumerle oder des Trauersteinschmätzers.

All dies grub sich mit solch poetischer Macht in mein Gehirn ein, dass ich nicht in der Lage war, es ohne Emotion in Musik umzusetzen. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen! Die Vögel alleine sind große Künstler. Sie sind die eigentlichen Komponisten dieser Stücke! Wenn manchmal die musikalische Qualität nachlässt, liegt das daran, dass der Komponist sich draußen in der Natur ungeschickt verhalten oder ein störendes Geräusch gemacht hat, also mit dem Fuß gegen einen Stein gestoßen ist, eine Seite umgeblättert oder einen trockenen Ast abgeknickt hat.“

 

„Hören Sie den Vögeln zu, das sind große Meister“, soll der Kompositionslehrer Messiaens, Paul Dukas, zu seinem Schüler gesagt haben. Und dieser sollte später äußern: „Natur, Vogelgesang! Das sind meine Leidenschaften. Sie sind auch meine Zuflucht.“

Jedes der dreizehn Klavierstücke des Catalogue d’Oiseaux wird von Messiaen genau beschrieben. So zum Beispiel  „Die Blaumerle“ (Le Merle bleu) – das Stück Nummer drei:

 

Im Monat Juni. Roussillon, Côte Vermeille. in der Nähe von Banyuls: Kap I’Abeille, Kap Rederis. Ein Felsüberhang, Kliff über dem Meer, das daliegt in Preußischblau und Saphirblau. Schreie von Mauerseglern, Plätschern von Wasser. Die kleinen Landzungen erstrecken sich ins Meer wie Krokodile. ln einer Felsspalte die Blaumerle, deren Gesang darin nachhallt. Ihr Blau ist ein anderes als das des Meers: Veilchenblau, Schiefergrau, Seidenblau, Schwarzblau. Ihr fast schon exotischer Gesang, der an balinesische Musik erinnert, mischt sich in das Rauschen der Wellen. Auch die Theklalerche ist zu hören, die im Himmel hoch über dem Wein und dem Rosmarin flattert. Die Silbermöwen johlen von weither über dem Meer. Die Felswände sind furchterregend. Ihnen zu Füßen ersterben die Wellen in Gedanken an die Blaumerle.“

 

Messiaen wurde am 10. Dezember 1908 in Avignon geboren, er starb am 27. April 1992 in Clichy, Hauts-de-Seine). Er war Professor für Komposition am Pariser Conservatoire (1941–1978) und übte das Amt des Titularorganisten an der Kirche Sainte Trinité (Paris) mit einer Orgel von Cavaillé-Coll (1868), mehr 60 Jahre lang aus.

2019 5 Okt.

Willow Weep For Me

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off

Ich habe oft mein Packerl Jazz-Schallplatten an seinen Schreibtisch bei jazz by post in der Pasinger Gleichmannstraße getragen und die Rechnung beglichen. Irgendwann habe ich ihn gefragt, ob Jarrett auch in der Provinz auftreten würde.

 

 

 


Quellen:


– Süddeutsche Zeitung
– Fono Forum Heft 11/2019


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz